Die Tragödie der ukrainischen Arbeiter*innenklasse

Ende 1965 erhielten die Apparatschiks der Kommunistischen Partei der Ukraine ein empörendes Samisdat – auf Ukrainisch: samvydav – mit dem Titel „Internationalismus oder Russifizierung?“. Darin wurde behauptet, dass hinter der Fassade des brüderlichen Zusammenlebens der Völker in der UdSSR ein großrussischer Chauvinismus lauere, der die wirkliche Entwicklung der Volkskultur verhindere, die Geschichte der nicht-russischen Völker ausradiere, die Russifizierung fördere und der Ukrainophobie Vorschub leiste. Unter Bezugnahme auf Lenins Schriften wurde in dem Manuskript argumentiert, dass dies das Ergebnis „einer vollständigen Revision der leninistischen Parteipolitik zur nationalen Frage war, einer Revision, die von Stalin in den 1930er Jahren durchgeführt und von Chruschtschow im letzten Jahrzehnt fortgesetzt wurde.“[1]

Der Autor dieser Worte, Iwan Dziuba, gebürtig aus dem Oblast Donezk, ukrainischer Literaturkritiker und Dissident, ist erst vor kurzem, am 22. Februar 2022, gestorben. Nur zwei Tage später begann der Angriff auf Kiew.

Russische Vertreter haben verschiedene Argumente vorgebracht, um die Invasion zu rechtfertigen und zu legitimieren. Auch die Betonung der verschiedenen Ziele der sogenannten Sonderoperation ändert sich: vom Schutz der selbsternannten „Volksrepubliken“ im Osten über die „Entnazifizierung und „Entmilitarisierung“ der Ukraine bis hin zum Regimewechsel oder der Schaffung eines Korridors vom Donbas nach Transnistrien. Aus ihren Äußerungen kristallisiert sich jedoch allmählich eine zentrale Botschaft heraus: Erstens habe der ukrainische Staat keinen Anspruch auf Existenz, zumindest nicht in seinen derzeitigen Grenzen; und zweitens gebe es keine eigenständige ukrainische Nation, sondern sie sei lediglich eine Variante des dreieinigen russischen Volkes, zu der Großrussen (d. h. Russen), Weißrussen und Kleinrussen (d. h. Ukrainer und Ruthenen) gehören.

Die Aktionen des russischen Militärs in den besetzten Gebieten spiegeln dies wider. Soldaten entfernen Schilder in ukrainischer Sprache und alle Arten von ukrainischen Symbolen. FSB-Agenten verhören Schuldirektor*innen und Lehrer*innen. Die entstehende militärisch-politische Verwaltung hat angekündigt, das Bildungssystem auf den russischen Lehrplan umzustellen und den Unterricht ausschließlich auf Russisch abzuhalten. Viele Flüchtlinge, die die „Filtrationslager“ durchlaufen, finden sich Tausende von Kilometern von ihrer Heimat entfernt, tief im Gebiet der Besatzer wieder. Es gibt Spekulationen, dass die bestehenden „Republiken“ sowie mögliche neue Formationen dieser Art (z.B. in der Oblast Cherson) Teil der Russischen Föderation werden könnten.[2]

Der derzeitige Krieg gegen die Ukraine ist irredentistisch: Er zielt darauf ab, dem Reich („Föderation“) ein Gebiet zurückzugeben, das es als sein eigenes betrachtet. Nach dieser Auffassung ist die Ukraine nur vorübergehend verloren gegangen und wird von einer Bevölkerung bewohnt, die einfach ihre wahre nationale Identität vergessen hat. Die Theorie und Praxis dieses Konflikts ist derselbe großrussische Chauvinismus, gegen den Dziuba protestiert hat. Manchmal erscheint er in seiner klassischen, zaristischen und orthodoxen Form, ein anderes Mal bedient er sich stalinistischer Bilder, in denen der Kult des Großen Vaterländischen Krieges eine zentrale Rolle spielt. So entsteht eine bizarre Mischung. Das neue Wappen des besetzten Oblast Cherson nimmt Bezug auf die zaristische Symbolik. Gleichzeitig hissen die Besatzer rote Fahnen mit Hammer und Sichel, die einst den Untergang der Romanow-Dynastie ankündigten. Dieses Sammelsurium ergibt nur dann einen Sinn, wenn man versteht, dass die verbindende Komponente der großrussische Chauvinismus ist.

Die nationale Frage, die für die Revolutionäre, die vor mehr als hundert Jahren auf demselben Territorium agierten, von zentraler Bedeutung war, spielt in diesem Krieg eine Schlüsselrolle. Deshalb erscheint dieser Konflikt manchen als anachronistisch, als fehl am Platz im heutigen Europa. In den letzten siebzig Jahren haben die meisten europäischen Länder Konflikte im Zusammenhang mit nationaler Selbstbestimmung nur in Form von antikolonialen Aufständen erlebt, die im globalen Süden stattfanden (d. h. die zahlreichen Kriege in Afrika oder Südostasien), oder in Form von separatistischen Bewegungen oder Bürgerkriegen, die viel weniger intensiv waren (z. B. Nordirland, das Baskenland). Der blutige Untergang Jugoslawiens ist einfach in Vergessenheit geraten, wenn auch zu Unrecht. Wie die sechs Kriege von 1991-2001, die den Zerfall der Balkanföderation begleiteten, sollte auch der russische Einmarsch in die Ukraine im Kontext der Transformation des „Staatssozialismus“ und des Scheiterns seiner Versuche, die nationale Frage auf den ehemaligen Territorien des Russischen Reiches und Österreich-Ungarns zu lösen, gesehen werden.

Die tiefen Krisen und die anschließenden wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, die diese Staaten seit Mitte der 1980er Jahre durchlaufen haben, haben nationale Spannungen an die Oberfläche gebracht, die die Ostblockregime unter Kontrolle zu halten versuchten. Gleichzeitig spielte der Nationalismus – von seinen extrem chauvinistischen bis hin zu den „friedlichen“, bürgerlichen Varianten – eine Schlüsselrolle bei der Legitimierung der Bewegungen gegen die stalinistischen Regime. In den politischen Arenen der neuen Staaten erlebte er eine große Renaissance. Die ohne militärische Konflikte vollzogene Teilung der ČSFR in die Tschechische Republik und die Slowakei oder die friedliche Vereinigung der beiden deutschen Staaten nach dem Fall der Berliner Mauer waren Ausnahmen. Der Untergang der UdSSR hingegen wurde von einer Reihe bewaffneter Konflikte begleitet, von Zusammenstößen zwischen Demonstrant*innen und der (militarisierten) Polizei und Armee bis hin zu den brutalen Kriegen in Tschetschenien. Russlands Krieg mit der Ukraine, der 2014 begann, ist eine Fortsetzung dieser Reihe, während die Invasion im Februar 2022 nur eine Eskalation eines bestehenden Konflikts ist.

Der aktuelle Krieg kann nur vor dem Hintergrund der Entwicklung des ukrainischen Kapitalismus und seiner Besonderheiten verstanden werden. In diesem Text zeichnen wir seine Geschichte seit der Unabhängigkeit der Ukraine und der Entstehung regionaler und sektoraler „Clans“ innerhalb der Kapitalistenklasse nach, von denen einige enge Verbindungen zur Wirtschaft der Russischen Föderation hatten. In der Politik nahm der Wettbewerb dieser Clans die Form eines Wettstreits um lukrative Positionen an, die den Zugang zu staatlichen Ressourcen ermöglichten. Die nationale Frage wurde – zum Teil aus historischen Gründen – Teil dieses Kampfes und wurde von den politischen Projekten der Oligarch*innen als Mobilisierungsinstrument genutzt. Während die Macht der Clans die wirtschaftliche Entwicklung bremste, bildete ihre Rivalität die Grundlage für die politische Instabilität. Diese kulminierte 2013/14 mit dem Euromaidan, dem Entstehen selbsternannter „Republiken“ im Donbas und dem Beginn eines militärischen Konflikts mit Russland. In einem zukünftigen Artikel werden wir die Herausforderungen analysieren, die die aktuelle Invasion für die Arbeiter*innen sowohl in der Ukraine als auch in Russland mit sich bringt, und der Frage nachgehen, welche Position sie in diesem Konflikt einnehmen sollten.

Clan-Kapitalismus

Die Ukraine wurde 1991 nach einem Referendum mit der Zustimmung von 90 % der Wähler*innen unabhängig.[3] Bis 2014 akzeptierte Russland dieses Ergebnis und erkannte die Existenz der Ukraine als eine Art Regime der „begrenzten Souveränität“ an. Die Ukraine war durch wirtschaftliche Beziehungen mit ihrem größeren Nachbarn[4] verbunden, und Russland konnte dank seiner lokalen Klientel die innenpolitische Entwicklung beeinflussen. Letztere ist seit langem turbulent.

Die wirtschaftliche Transformation, im Laufe der die Ukraine bis zu einem gewissen Grad die Vorgaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank verfolgte, brachte schnell eine neue kapitalistische Klasse hervor. Sie setzte sich zunächst hauptsächlich aus „roten Direktoren“ (d.h. den Führungskadern des stalinistischen Regimes) zusammen, später auch aus breiteren Schichten – aus den Reihen der technischen Intelligenz, verschiedenen Teilen des Staatsapparats und der kriminellen Unterwelt. Die 1990er Jahre waren für diese Klasse ein wahres Eldorado, auch wenn sie für ihre einzelnen Mitglieder oft recht gefährlich waren. Mit legalen sowohl als auch kriminellen Methoden bemächtigte sie sich wichtiger Unternehmen und Banken, die sie entweder vollständig finanziell aussaugte oder aber in riesige Holdings und Investmentgruppen konzentrierte. Die Gewinne wurden in Steuerparadiese exportiert. Gleichzeitig begann sie, die Kontrolle über die Medien und die Politik zu übernehmen. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern in der stalinistischen Nomenklatura gelang es ihr auch, sich in die globale Kapitalist*innenklasse zu integrieren, zumindest, was die Verwendung ihres Konsumtionsfonds betrifft (Yachten und Luxusimmobilien im Ausland, Jets sowie private Investitionen auf den internationalen Finanzmärkten).

Gleichzeitig ging das reale Pro-Kopf-BIP der Ukraine bis zum Jahr 2000 stetig zurück. Die durchschnittliche Lebenserwartung sank von 70,5 (im Jahr 1989) auf 67,7 Jahre. Nicht gezahlte Löhne,[5] Arbeit in der Schattenwirtschaft und ein Rückgang der Kaufkraft wurden für die ukrainische Arbeiter*innenklasse zur täglichen Realität. Obwohl zahlreiche Streiks, Märsche, Hungerstreiks und Blockaden einige lokale Erfolge erzielten (z. B. die Zahlung von Lohnrückständen, die Verschiebung einer Privatisierung usw.), gelang es ihnen nicht, den Gesamtkurs zu ändern oder eine breitere Bewegung zu schaffen.

Die Geschichte, die wir bis hierhin erzählt haben, unterscheidet sich nicht wesentlich von der russischen.[6] Die Zentralisierung und Konsolidierung, die Putin nach der asiatischen Finanzkrise und dem Zusammenbruch des Rubels (1997/98) durchführte, hat in der Ukraine jedoch nie stattgefunden. Putin verstaatlichte nach und nach einige Energieunternehmen, baute eine „Machtvertikale“ auf, deren Rückgrat Kader des Sicherheitsdienstes und verschiedene persönliche Freunde bildeten, und schaltete die Oligarch*innen innerhalb dieser Struktur gleich. Letztere überwacht seitdem die Verteilung der Rente, die hauptsächlich aus der Förderung fossiler Brennstoffe stammt. Die einheimische Kapitalist*innenklasse der Ukraine hingegen ist nach wie vor in konkurrierende „Clans“ gespalten, die an bestimmte Wirtschaftszweige und geografische Regionen gebunden sind.[7] Die Rivalität zwischen diesen Fraktionen des ukrainischen Kapitals ist die Grundlage für politische Instabilität.

Die zahlreichen politischen Protestbewegungen, die oft auch soziale Forderungen erhoben, wurden immer von einem politischen Projekt einer der Gruppen vereinnahmt – entweder von Anfang an oder nach und nach. Die Proteste „Ukraine ohne Kutschma“ (2001/02) und „Steh auf, Ukraine!“ (2002/03) richteten sich gegen Präsident Leonid Kutschma, der in mehrere Skandale verwickelt war, darunter in den Mord an einem Journalisten. Die „Orangene Revolution“ (2004/05) war eine Reaktion auf den Wahlbetrug des damaligen Ministerpräsidenten und Präsidentschaftskandidaten Viktor Janukowitsch sowie auf die fragwürdige Privatisierung des größten ukrainischen Stahlwerks in Krywyj Rih (Oblast Dnipropetrovsk), an der Kutschmas Schwager und der ehemalige Donezker Gangster Rinat Achmetow beteiligt waren. Die Bewegung „Erhebe dich, Ukraine!“ (2013) wandte sich gegen Präsident Janukowitsch und seine Versuche, die Macht zu konsolidieren. Der Euromaidan (2014) schließlich war eine Reaktion auf dessen Entscheidung, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht zu unterzeichnen. Die erfolgreichsten dieser Bewegungen, die Orangene Revolution und der Euromaidan, haben zwar zu einem Wechsel der politischen Führung geführt, aber sie haben die Position der Clans, geschweige denn das Clan-System als solches, nicht wesentlich erschüttert. Letztlich wurden sie zu einem Mittel, um eine andere Fraktion der einheimischen Unternehmer*innen an die Macht zu bringen.

Der lumpenkapitalistische Wettbewerb, bei dem die eine oder andere Fraktion die Kontrolle über den Staat (und damit einen bevorzugten Zugang zu Krediten, Subventionen und Verträgen) erlangte, erklärt zumindest teilweise, warum es dem Staat nicht gelungen ist, dem Land einen langfristigen, tragfähigen Entwicklungsplan aufzuerlegen. Andererseits ließ dieses instabile Umfeld auch Raum für die Entwicklung einer widerständigen Zivilgesellschaft, einschließlich unabhängiger Gewerkschaften, aktivistischen Gruppen und der radikalen Linken.[8]

Russland erhielt seinen Einfluss auf die Ukraine über diejenigen Teile der lokalen Kapitalist*innenklasse, die ein materielles Interesse an der Aufrechterhaltung enger Beziehungen hatten – zum Beispiel im Interesse des eigenen Absatzes, günstiger Preise für Vorleistungen (insbesondere, aber nicht ausschließlich, für Energie) oder angesichts der Gebühren für den Gastransfer. Die Kapitalbasis dieser Fraktion konzentrierte sich vor allem im Donbas, einem ehemaligen industriellen Kernland der Sowjetunion, in dem eine große russischsprachige Bevölkerung lebt und die Geburtsstätte der „Stachanow-Bewegung“ ist. In den 1990er Jahren war der Donbas Schauplatz der blutigsten Konflikte innerhalb der Kapitalist*innenklasse, ein Zentrum des organisierten Verbrechens – aber auch das Epizentrum der Tragödie der „alten“ Arbeiter*innenbewegung, insbesondere der Bergarbeiter*innen. Ihre Massenstreiks in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren trugen zwar dazu bei, das Sowjetregime zu zerstören und die Unabhängigkeit der Ukraine zu erringen,[9] aber nach einer Welle von Privatisierungen und Raubzügen bei anschließendem Konkurs der betroffenen Betriebe fanden sich viele ohne Arbeit und Perspektive wieder. Zwischen 1992 und 2013 sank die Bevölkerung in den Gebieten Donezk und Luhansk um 1,7 Millionen und damit doppelt so schnell wie im Rest des Landes.[10]

Ein Kurzer Boom

Auf der Welle der weltweiten Hochkonjunktur nach 2000 begann auch das reale BIP der Ukraine zu wachsen. Diese Phase der rasanten Entwicklung (2004 wuchs die Wirtschaft im Jahresvergleich um mehr als 12 %) dauerte bis zum Ausbruch der Krise im Jahr 2008. Das Wachstum der Exporte spielte dabei eine besonders wichtige Rolle. Die internationale Nachfrage nach Metall- und Chemieprodukten stieg, und damit auch die Preise. Die ukrainischen Unternehmen profitierten von günstigen Bedingungen, zu denen sie russisches Gas und Öl kauften. Die wachsende Kluft zwischen den Weltmarktpreisen für Rohstoffe und den Preisen für Vorprodukte war die Quelle der außerordentlichen Profite, die sich die lokale Oligarchie aneignete.

Vorhandene billige Arbeitskräfte und Steuervorteile (auch in Sonderwirtschaftszonen) zogen auch ausländische Investitionen an. Bereits 2003 wurde in Stryj (Oblast Lwiw) ein Leoni-Werk gegründet, das heute rund 7.000 Menschen beschäftigt und Kabelbäume für Volkswagen und Stellantis herstellt.[11] Im Westen der Ukraine bildete sich nach und nach ein ganzes Cluster ähnlicher Zulieferer, die sich auf die Verkabelung von Kraftfahrzeugen konzentrieren. 2005 wurde die fragwürdige Privatisierung des Stahlwerks Kryvorizhstal von den Gerichten annulliert. In einer neuen Ausschreibung (die live im Fernsehen übertragen wurde, um jeden Zweifel auszuräumen) erwarb ArcelorMittal das Werk für knapp fünf Milliarden Dollar. Es war die größte Transaktion dieser Art. Der neue Eigentümer reduzierte die Zahl der Beschäftigten um mehr als die Hälfte, hielt aber die Produktion auf demselben Niveau aufrecht. Gleichzeitig investierte die Firma fast genauso viel Mittel in die Steigerung der Produktivität wie in den Kauf des Unternehmens.

In dieser Zeit konnte die Ukraine jedoch nicht den Vorsprung anderer ehemaligen Ostblockländern aufholen, deren Position zudem durch den EU-Beitritt im 2004 gestärkt wurde.[12] Die alte industrielle Basis in der Ostukraine war hauptsächlich auf Bergbau und Metallurgie ausgerichtet. Sie war in hohem Maße vertikal integriert und von Lieferanten und Kunden in anderen Teilen der Sowjetunion abhängig. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verkümmerten diese Ketten. Ein Jahrzehnt der Stagnation in den 1990er Jahren verwandelte einen Großteil des ukrainischen fixen Kapitals (Gebäude, Maschinen, Infrastruktur) in einen Ballast, der die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigte. Der Mangel an in- und ausländischen Investitionen zur Steigerung der Produktivität oder zur Umstellung der Produktion verschlimmerte das Problem. Infolgedessen wurde die Ukraine hauptsächlich als Quelle von Halbfertigprodukten oder Rohstoffen für die Weiterverarbeitung in den Weltmarkt integriert: 2008 entfiel der größte Anteil der Exporte auf Eisen und Stahl (35 %), mineralische Brennstoffe und Mineralöle (6 %) sowie Getreide (6 %).

Der Boom nach 2000 wurde durch in- und ausländische Kredite angeheizt. Die 2008 ausgebrochene Finanzkrise erschwerte den ukrainischen Unternehmen und Banken den Zugang zu Finanzmitteln und bedrohte ihre Zahlungsfähigkeit. Als sie Ende 2008 auf die weltweite Industrie übergriff, brach die Auslandsnachfrage nach ukrainischen Rohstoffen weg. Produktionskürzungen und Entlassungen wiederum untergruben die Quellen der Inlandsnachfrage. Zu allem Überfluss stellte Russland 2009 zu Vorzugspreisen gewährte Gaslieferungen an die Ukraine ein.[13]

Mit der Krise fand die kurze Phase des Wachstums ein jähes Ende. Die ukrainische Wirtschaft schrumpfte um fünfzehn Prozent und stürzte in eine langfristige Stagnation. Noch im Jahr 2019 (d. h. vor der Pandemie) betrug das reale BIP nur 85 % des Höchststandes vor der Krise im Jahr 2008.[14] Die Automobilindustrie, die zuvor ein vielversprechendes Wachstum verzeichnet hatte, wurde eines der Opfer der Krise. Während im Jahr 2000 nur 30.000 Fahrzeuge in der Ukraine produziert worden waren, waren es am Vorabend der Krise bereits über 400.000 gewesen. Doch mehr als zehn Jahre nach der Krise liegen die ukrainischen Autofabriken immer noch weitgehend brach. Im Jahr 2019 produzierten sie nur 7.000 Fahrzeuge.[15]

Die Krise vertiefte die Abhängigkeit der Ukraine von internationalen Finanzinstitutionen, aus der sie sich gerade erst zu lösen begann. Im Jahr 2008 benötigte das Land ein Notdarlehen der Weltbank (800 Mio. USD), nur um das staatliche Haushaltsdefizit zu decken. Im Rahmen einer Vereinbarung über einen Bereitschaftskredit mit dem IWF erhielt das Land weitere mehr als 16 Mrd. Dollar, hauptsächlich um andere Verpflichtungen zu erfüllen. Das Programm musste unterbrochen werden, als 2009 der „pro-westliche“ Präsident Juschtschenko entgegen den Empfehlungen des Fonds eine Erhöhung des Mindestlohns und der Renten unterzeichnete, die während der Krise durch die Inflation stark in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Obwohl der neue („pro-russische“) Präsident Janukowitsch die Verhandlungen wieder aufnahm und versuchte, die Dinge zu regeln, trat das gleiche Problem 2011 erneut auf, als sich das Land, immer noch unter seiner Führung, weigerte, die Subventionen für die Gaspreise der Haushalte abzuschaffen.

Europäische Integration: hoffnung und wirklichkeit

Die ukrainische Kapitalist*innenklasse hatte beträchtlichen Reichtum angehäuft, aber sie hatte weder Interesse noch die Fähigkeit, ein Programm zur Modernisierung und kapitalistischen Entwicklung durchzusetzen. Ihre Akkumulationsweise beruhte auf der Ausplünderung der Ressourcen, die sie vom alten Regime geerbt hatte und über die sie dank der politischen Kontrolle über den Staat, einschließlich seiner regionalen Strukturen, verfügen konnte. Obwohl sie in Fraktionen gespalten war, von denen einige eine Ausrichtung auf Russland und den postsowjetischen Raum befürworteten, während andere für eine Integration in die europäischen Strukturen eintraten, blieb sie insgesamt in einer unterwürfigen Position gegenüber ausländischen Gläubigern. In der Tat hing das Überleben des gesamten Modells einer „politischen“ Akkumulation von deren Wohlwollen ab. Die Folgen der Finanzdisziplin wurden stets von der ukrainischen Arbeiter*innenklasse getragen, vor allem in Form von Armut und Kürzung öffentlicher Ausgaben. Aber gleichzeitig wurden die Empfehlungen der Gläubiger selektiv umgesetzt, um die Interessen der nationalen Kapitalist*innenklasse oder ihrer herrschenden Fraktion nicht zu gefährden. So kam es, dass in der Ukraine nach dreißig Jahren der Transformation immer noch über 3.000 Staatsbetriebe registriert waren, von denen 1.300 noch in Betrieb sind.[16] Der gleiche Selbsterhaltungstrieb der ukrainischen Bourgeoisie setzte ein, wenn die IWF-Vorgaben den sozialen Frieden infrage zu stellen drohten – wie z.B. angesichts der oben genannten Mindestlohnerhöhung deutlich wurde.

Die ukrainischen Arbeiter*innen sind seit 1991 äußerst mobil. Zu Zehntausenden gingen sie zur Arbeit nach Russland, Polen oder in die Tschechische Republik, aber auch weiter nach Westen. Neben dem Geld (die Überweisungen machten schon vor der Krise etwa 5 % des BIP aus) konnten die ukrainischen Arbeiter*innen auch Erfahrungen mit anderen Bedingungen sammeln. So konnten sie vergleichen, wie es ist, in verschiedenen Ländern zu arbeiten und zu leben. Die deutlich höheren Einkommen in den EU-Ländern waren besonders für Menschen aus dem agrarischen Westen der Ukraine attraktiv. Möglicherweise beeinflusst durch diese Erfahrung, zog ein Teil der Bevölkerung die europäische Integration dem Aufbau engerer Beziehungen zu den postsowjetischen Ländern vor. In einer Umfrage vom September 2012 lag das Verhältnis zwischen diesen beiden Positionen bei 32 % zu 42 %. Ein Jahr später, als die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der Europäischen Union unmittelbar bevorstand, hatte sich dieses Verhältnis auf 42 % zu 37 % gedreht.

Was konnten die ukrainischen Arbeiter*innen von dem Integrationsprozess erwarten? Das Assoziierungsabkommen beinhaltete ein „Abkommen über eine vertiefte und umfassende Freihandelszone“ (DCFTA), das ukrainischen Unternehmen einen leichteren Zugang zum europäischen Markt ermöglichen sollte (und umgekehrt), was die Ausfuhren fördern und Investitionen anziehen sollte. Außerdem hätte es ukrainischen Bürger*innen die Einreise in EU-Länder erleichtert, auch wenn sie – vorläufig – noch befristete Genehmigungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt benötigt hätten. Mit der Unterzeichnung des Abkommens hätte auch eine Phase der Angleichung ukrainischer Rechtsvorschriften und weiterer Normen (einschließlich der Industrienormen) an die der EU beginnen, um die Rechtsstaatlichkeit zu stärken und das ukrainische Unternehmensumfeld besser an das europäische anzupassen.

Die Unterzeichnung des Abkommens hätte allerdings zugleich den schrittweisen Verlust der Möglichkeit bedeutet, den heimischen Markt durch Zölle vor der europäischen Konkurrenz zu schützen. Die EU machte das Abkommen zwar nicht davon abhängig, dass die Ukraine alle Empfehlungen des IWF befolge (z. B. Abschaffung der Gassubventionen, flexiblere Geldpolitik, ausgeglichener Haushalt, Kürzung der öffentlichen Ausgaben), betrachtete diese Empfehlungen aber als entscheidend für die Reform und Modernisierung des Landes. Alles in allem war das Abkommen kein wohltätiges Unterfangen. Es hättte der Ukraine Kosten auferlegt, die wiederum hauptsächlich von den beruflich aktiven Arbeiter*innen oder Pensionist*innen zu tragen wären.

Die westliche Linke stellt die Situation der Ukraine im Jahr 2013 manchmal sehr einfach dar: Sie habe die Wahl zwischen zwei gleich schlechten Optionen gehabt, dem „neoliberalen Projekt“ der EU und der Fortsetzung der russischen Dominanz. Aus der Sicht der ukrainischen Arbeiter*innen hätte es jedoch auch anders aussehen können. Sie hatten die Erfahrung von mehr als zwanzig Jahren Transformation gemacht, ohne viel vorzuweisen. Ja, die polnische Schocktherapie der frühen 1990er Jahre war brutal, aber die Veränderungen, die beispielsweise der Donbas im gleichen Zeitraum durchmachte, waren es mindestens ebenso. Und während Polen später unbestreitbare Verbesserungen in Bezug auf Einkommen oder Lebenserwartung verzeichnete, stagnierte die Ukraine oder ging zurück. Es stimmt auch, dass z. B. italienische oder spanische Arbeiter*innen in der Zeit nach 2008 ein Einfrieren oder einen Rückgang der Reallöhne erlebten und dass die Sparmaßnahmen nach der Krise, die vom IWF und der EU durchgesetzt wurden, ihre öffentlichen Dienste dezimierten. Von der Ukraine aus betrachtet – insbesondere von den weniger entwickelten Regionen – ist ihr Lebensstandard jedoch weiterhin sehr attraktiv. Dies lies den Preis, der in Form einer komplizierten Umstrukturierung der ukrainischen Wirtschaft gezahlt werden müsste, für manche attraktiv erscheinen.

Andererseits war das Assoziierungsabkommen weder ein Abkommen über den Beitritt zur EU, noch begründete es einen Anspruch darauf.[17] Chile hatte 1995 ein ähnliches Abkommen unterzeichnet, aber niemand hatte erwartet, dass dieses Land ein Mitgliedstaat wird. Im Falle der Ukraine sollte es eine Annäherung geben – allerdings ohne klare Aussicht darauf, ob und wann die Ukraine tatsächlich dem polnischen Weg würde folgen können. Außerdem traten Polen und andere ehemalige Ostblockländer der EU in einer grundlegend anderen Situation bei: von einer anderen Ausgangslage und mit einer anderen EU. Erstens hatten sie den Übergangsprozess, den die Ukraine nie ganz abgeschlossen hat, bereits hinter sich, und ihre Volkswirtschaften lagen weit über dem Produktivitätsniveau von 1989. Zweitens lebte die EU immer noch in der Illusion, dass die strukturellen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten überschaubar seien. Vor der Schuldenkrise und vor dem Hintergrund des Wirtschaftsbooms, der erst 2008 endete, schien es, dass solche Ungleichgewichte keine Gefahr für den Zusammenhalt des gesamten Projekts darstellten. Ein möglicher Beitritt der Ukraine wäre, selbst wenn er 2013 auf der Tagesordnung gestanden hätte, mit größerer Vorsicht angegangen worden als bei den Kandidaten, die bereits früher – zum Beispiel 2007 – beigetreten waren (Bulgarien, Rumänien).

Doch die westlichen Länder hatten ihre Gründe, das Abkommen zu unterzeichnen, um zumindest ein vages Versprechen auf eine künftige Mitgliedschaft aufrechtzuerhalten und die Ukraine in den größeren europäischen Rahmen einzubinden. Sie würden leichteren Zugang zu einem Reservoir an qualifizierten Arbeitskräften und einem großen Binnenmarkt, günstigere Inputpreise für die europäische Industrie und Erleichterungen von Investitionen in der Ukraine erhalten. Sie wussten auch, dass dieser Schritt Russland verärgern würde, weil er dessen Position in der Region schwächen würde. Ein solches Ergebnis war auch politisch für die Vereinigten Staaten von Vorteil.

Solange die Ukraine in der alten Einflusssphäre verblieb, war offener Irredentismus in der russischen Politik eine randständige Position. Mit dem Assoziierungsabkommen und der – wenn auch schwachen – Aussicht auf eine künftige EU-Mitgliedschaft bestand jedoch die reale Gefahr, dass der „kleinrussische“ Satellit von seiner Umlaufbahn abdriftet. Am Vorabend der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens erklärte der Berater des russischen Präsidenten für regionale Wirtschaftsintegration, Sergej Glasjew, dass Russland den „Status der Ukraine als Staat“ nicht garantieren könne, wenn das Abkommen unterzeichnet werde, und dass es zugunsten der „prorussischen Regionen“ intervenieren könnte. Kurz zuvor hatte Russland bereits einen Handelskrieg begonnen, der der ukrainischen Wirtschaft erheblichen Schaden zufügte. Im Herbst 2013 stieg Präsident Janukowitsch in letzter Minute aus dem Abkommen aus. Stattdessen ging er auf ein russisches Angebot ein, das den schrittweisen Ankauf ukrainischer Anleihen im Wert von fünfzehn Milliarden Dollar und eine Senkung des Gaspreises um ein Drittel vorsah.

Diese Alternative bot die Möglichkeit, die dringendsten Schulden zu decken und die ukrainische Industrie zu entlasten. Anders als das IWF-Programm (Sparmaßnahmen) und das Assoziierungsabkommen selbst (schrittweise Öffnung der ukrainischen Wirtschaft, Angleichung der Rechtsvorschriften usw.) enthielt es keine Bedingungen. Es war die Rede von einem Beitritt der Ukraine zur Zollunion mit Russland und anderen postsowjetischen Staaten, die bald zur Eurasischen Wirtschaftsunion (EEU) werden sollte. Letztere soll als eine Art Alternative zur EU dienen, mit freiem Personen-, Kapital- und Warenverkehr zwischen den Mitgliedsstaaten. Die bisherigen Ergebnisse sind jedoch, gelinde gesagt, bescheiden, abgesehen von der Tatsache, dass Russland vom Zustrom billigerer Arbeitskräfte aus den ehemaligen Sowjetrepubliken profitiert hat. Alles in allem bedeutete das Angebot Russlands an die Ukraine die Aufrechterhaltung des Status quo: Abwendung des Staatsbankrotts, Wiederherstellung günstiger Gaspreise und Aufrechterhaltung der Positionen jener Fraktion der Kapitalist*innen, die am meisten von den Kontakten mit Russland profitiert hatte (und deren Vertreter Janukowitsch war). Es enthielt kein wirkliches Programm für die kapitalistische Entwicklung.

Für einige war dies inakzeptabel. Der Schritt des Präsidenten, der trotz wiederholter Zusicherungen erfolgte, dass Janukowitsch die pro-europäische Ausrichtung der Ukraine akzeptiere, löste eine Eskalation der Proteste auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz aus. Die Änderung des Wahlsystems, die Verschärfung der Repression und die allgemeine Konsolidierung der Macht durch Janukowitschs „Partei der Regionen“ haben ebenfalls zu diesen Protesten beigetragen. Sie verwandelten sich schnell in Massenunruhen und führten schließlich zum Sturz des Regimes. Die Ukraine geriet außer Kontrolle und der Androhung Glasjews folgten bald Taten.

Die Nationale Frage

Nach dem Euromaidan und dem Krieg im Donbas sind die nationalen Spannungen in der Ukraine in den Mittelpunkt gerückt. Sie haben jedoch eine längere Vorgeschichte.[18] Bereits 1992 erklärte das Kommunalparlament der Krim seine Unabhängigkeit und erlangte in den dadurch ausgelösten Verhandlungen größere Autonomie und einen wirtschaftlichen Sonderstatus für die gesamte Region. In den folgenden Jahren fanden Demonstrationen und Proteste statt, an denen einige tausend Menschen teilnahmen und weitere Zugeständnisse, die Unabhängigkeit oder den Anschluss an die Russische Föderation forderten. Es gab auch Vorschläge, Russisch zur offiziellen Sprache der Halbinsel zu erklären.

Was den Donbas betrifft, so standen die streikenden Bergarbeiter*innen von 1989 dem Nationalismus ihrer Kollegen aus dem Oblast Lwiw noch eher skeptisch gegenüber; stattdessen betonten sie wirtschaftliche Forderungen.[19] 1994 wurde in den Gebieten Donezk und Luhansk ein nicht bindendes „Referendum“ über die Föderalisierung der Ukraine, den Status der russischen Sprache oder die Integration in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten abgehalten. Zehn Jahre später stimmte der Stadtrat von Luhansk für die Durchführung eines Referendums über die Gründung einer „Südöstlichen Autonomen Ukrainischen Republik“. Auch in Donezk gab es eine Demonstration mit 70.000 Teilnehmer*innen, die die Orangene Revolution als Staatsstreich ablehnten. Sollte diese zu Ende geführt werden, wurde die Gründung einer unabhängigen Republik innerhalb der Ukraine, ähnlich wie auf der Krim, gefordert. Diese Bestrebungen fanden jedoch kein breiteres Echo und entwickelten sich nicht zu Massenbewegungen.

Wie viele andere Staaten, die aus den Trümmern des Ostblocks hervorgingen, suchte die Ukraine nach einer Identität, die die Grundlage für den Aufbau eines neuen Nationalstaats bilden könnte. Und wie in anderen Ländern wurden die Quellen einer solchen Identität in den historischen antikommunistischen, konservativen oder rechtsextremen Bewegungen gesucht und gefunden. In der Slowakei begannen nach November 1989 die Erben der Ľudáken, gestärkt durch die Rückkehr der Emigranten, mit der Rehabilitierung des slowakischen Klerikalfaschismus und seiner ideologischen Vorläufer. Die kroatische Rechte begann, die Erinnerung an die Ustaše zu beschönigen. Die ukrainischen Nationalisten wiederum wandten sich den lokalen antisowjetischen Bewegungen und ihren Streitkräften zu, deren Mitglieder eine Zeit lang mit Nazideutschland kollaboriert und sich als willige Helfer am Holocaust beteiligt hatten.[20] Bereits in den 1990er Jahren entstanden die ersten Denkmäler für Mitglieder der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) und die ersten Straßen wurden nach diesen Leuten benannt. Außerdem erschien revisionistische „historische“ Literatur, die die Rolle der OUN und der UPA bei den Lemberger Pogromen von 1941 oder den ethnischen Säuberungen in Volhynia in 1943 ignorierte. An den Rändern des politischen Spektrums entstanden Organisationen, in dene Aktivist*innen eine persönliche Kontinuität mit der OUN und der UPA aufwiesen.

Der bereits beschriebene Konkurrenzkampf der kapitalistischen Fraktionen fand auch auf dem Terrain der nationalen Frage statt. Die politischen Projekte des Donbas-Clans, die mit Russland verbunden waren – in Form von Rohstoffen oder anderweitig –, förderten im Allgemeinen enge wirtschaftliche Beziehungen mit dem östlichen Nachbarn. Sie standen einer NATO-Mitgliedschaft skeptisch gegenüber und betonten die Bedeutung der Rechte russischer (oder russischsprachiger) Minderheiten. Im Gegensatz dazu bevorzugten ihre Gegenspieler, die von Clans außerhalb des Donbas und der Krim unterstützt wurden, die Integration in „euro-atlantische Strukturen“ und betonten die ukrainische nationale Identität. Nach der Wahl Juschtschenkos zum Präsidenten (2005) wurden vermehrt Erinnerungsorte an die nationalistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit errichtet. Während seiner Amtszeit wurden Roman Schuchewytsch (2007) und Stepan Bandera (2010) zu Nationalhelden der Ukraine erklärt.[21]

Die politischen Parteien, die sich an den Clans orientierten, nutzten die nationale Frage, um in den Regionen, auf die sie angewiesen waren, Unterstützung zu mobilisieren. Dabei gingen sie auch Bündnisse mit den radikaleren Parteien ein, die jedoch stets die zweite Geige spielten. Juschtschenkos Block „Unsere Ukraine – Selbstverteidigung des Volkes“ schloss bei den Parlamentswahlen 2002 den Kongress der Ukrainischen Nationalisten ein. Bei den Kommunalwahlen auf der Krim (2006) bestand die Koalition „Für Janukowitsch!“ aus der dominierenden Partei der Regionen und dem Russischen Block – einer Partei, die einen einheitlichen Staat für alle Ostslawen anstrebt.[22] Allerdings waren weder der offene Separatismus noch die extremen Varianten des ukrainischen Nationalismus Teil des politischen Mainstreams, wie die schlechten Ergebnisse dieser radikalen Parteien zeigten, als sie unabhängig voneinander kandidierten. Bei seinem Amtsantritt betonte Juschtschenko die Einheit der Ukraine, ungeachtet der Unterschiede in Sprache, Religion oder politischer Meinung, sowie den Respekt und die Freundlichkeit gegenüber den Nachbarn im Westen und Osten. Sein Nachfolger aus dem anderen Lager sprach ebenfalls von der Notwendigkeit, die Ukraine zu „vereinen“ und sie zu einem verlässlichen Partner für die EU zu machen, während gleichzeitig die Neutralität und die guten Beziehungen zu Russland gewahrt bleiben sollten. Keine der beiden Gruppen griff in der praktischen Politik zu Extremen, da die Unterstützung der verschiedenen Regionen im Kampf um die Kontrolle des Staatsapparats zugunsten des einen oder anderen Clans wichtig war. Die Präsidentschaftswahlen 2004 endeten mit einem Stimmenverhältnis von 52 zu 44; bei der nächsten Wahl betrug der Vorsprung weniger als vier Prozentpunkte.[23]

All die Anbiederung an die russische Minderheit und die Wiederbelebung der Nostalgie für die Sowjetzeit, in der die russische Sprache und Kultur dominierten, oder im Gegenteil die Betonung der ukrainischen nationalen Identität und die Zugeständnisse an die Rehabilitierung des „integralen Nationalismus“ von Bandera wären nutzlos, wenn sie nicht auf einer objektiven Grundlage beruhen würden. Grundlagen der nationalistischen Mobilisierungen waren die ungleiche Entwicklung der ukrainischen Regionen, ihre unterschiedlichen nationalen und sprachlichen Zusammensetzungen sowie die historischen Erfahrungen als Kolonie des Russischen Reiches und mit der Russifizierung in der UdSSR. Der industrielle Osten des Landes – einschließlich des Donbas – war in der Vergangenheit der Motor der Modernisierung. Infolge verschiedener Umstände, staatlicher Maßnahmen und einer spontanen wirtschaftlichen Entwicklung bestand ein erheblicher Teil der lokalen Bevölkerung aus Menschen russischer Nationalität.[24] Der Lebensstandard und die Löhne der Arbeiter*innen waren hier traditionell höher als im agrarischen Westen, wo ethnische Ukrainer*innen die Mehrheit bildeten.[25] Die Umgestaltung der ukrainischen Wirtschaft war ein Nährboden für Spannungen, die auf der gefühlten oder tatsächlichen Vernachlässigung bestimmter Sektoren und Regionen beruhten. Die politische Unabhängigkeit, die die Ukraine erlangte, wurde von vielen mit dem Ende der Russifizierung und der Loslösung von der „russischen Welt“ assoziiert. Regionale Clans nutzten solche Gefühle, um die Öffentlichkeit zu mobilisieren.

Wenn man über die nationale Frage nachdenkt, rutscht man leicht in ein Verständnis bestimmter Kategorien als unveränderlich ab. Nationalität, Sprache, geografische Herkunft, Klasse oder politische Präferenzen überschneiden sich jedoch in der Ukraine auf unterschiedliche Weise. Russisch zu sprechen, die russische Staatsangehörigkeit zu besitzen oder östlich des Dnjepr geboren zu sein, ist keine Garantie für eine Haltung, die in den ukrainischen Medien als „pro-russisch“ bezeichnet wird und die von Vorbehalten gegenüber den Entwicklungen nach 2013 über Sympathie für die Dezentralisierung der Ukraine bis hin zu Separatismus oder dem Wunsch nach einem Beitritt zur Russischen Föderation reichen kann. Auch die ukrainische Staatsangehörigkeit oder die Tatsache, dass man aus Galizien (einer westlichen Region) stammt, impliziert nicht automatisch eine „nationalistische Orientierung“, sei es in Form eines vagen Glaubens an die Existenz eines spezifischen ukrainischen nationalen Interesses oder einer offen rechtsextremen Einstellung. Es gibt jedoch statistische Tendenzen, die sich aus Umfragen ableiten lassen. Im Westen des Landes ist die ukrainische Identität tiefer verwurzelt und zieht sich durch alle Klassen und Bildungsschichten. Anderswo ist sie, ebenso wie die Unterstützung nationalistischer Politik, eher eine Angelegenheit der besser gebildeten und wohlhabenderen Bevölkerungsschichten. Hier ist sie paradoxerweise mit pro-europäischen und pro-westlichen Einstellungen verbunden. Dieser Nationalismus hat eher elitären Charakter und ist keine Angelegenheit der Schichten des „einfachen Volkes“. Der Krieg nach 2014, in dem (unter anderem) russischsprachige Soldaten auf beiden Seiten standen, sowie die derzeitige Eskalation hat jeden direkten Zusammenhang zwischen Nationalität oder Sprache und politischen Einstellungen weiter geschwächt.[26]

Es liegt im Interesse der Arbeiter*innenklasse, dass die nationale Frage friedlich und so demokratisch wie möglich gelöst wird – damit nationale oder sprachliche Minderheiten die größtmöglichen Freiheiten genießen und das Konfliktpotenzial so weit wie möglich abgebaut wird. In dieser Hinsicht ist das Vorgehen der ukrainischen Regierungen in der Sprachenpolitik zu kritisieren.[27] Die nationale Frage in der Ukraine hatte jedoch an sich kein explosives Potenzial. Sie hat nie zu wirklichen Massenbewegungen geführt, und ohne Eingreifen von außen hätte sie kaum zu einem Krieg geführt.

Vom Euromaidan…

Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise hat es einen weltweiten „Rechtsruck“ gegeben: den Aufstieg rechtsextremer, nationalistischer und konservativer Kräfte und die Verschiebung des gesamten politischen Spektrums in Richtung Traditionalismus, Autoritarismus und Obskurantismus. An einigen Orten geschah dies in Form einer Stärkung bestehender Organisationen, an anderen in Form einer Neugruppierung oder Umwandlung ehemals faschistischer Gruppen in eine „attraktivere“ Form. Natürlich blieben auch Russland und die Ukraine von dieser Entwicklung nicht ausgenommen, aber hier hat sie, wie überall, spezifische Formen angenommen. In Russland stießen die zunächst recht erfolgreichen Versuche von Faschisten und Nationalisten, sich unabhängig zu organisieren, im Jahr 2012 auf starke Repressionen. Gleichzeitig hat das Putin-Regime aber auch einige Elemente ihrer Rhetorik übernommen. Bereits 2009 erklärte die Partei „Einiges Russland“ den „russischen Konservatismus“ zu ihrer offiziellen Ideologie; wenig später bekannte sich W. W. Putin selbst zu konservativen Überzeugungen. Nach 2012, als sich die Angriffe sowohl gegen die politische Opposition als auch gegen die Zivilgesellschaft richteten, verschärften sich die staatlichen Repressionen gegen Schwule und Lesben, die fremdenfeindlichen Gefühle in der Bevölkerung erreichten einen Höhepunkt, und die Position der Orthodoxie in der Gesellschaft wurde gestärkt.[28] Die Annexion der Krim und der Beginn des Krieges im Donbas im Jahr 2014 waren wiederum ein klares Signal, dass Russland beabsichtigte, als imperialer Akteur auf die internationale Bühne zurückzukehren, was durch seine Interventionen in Syrien und Mali bestätigt wurde.

In der Ukraine brachten die Nachwirkungen der Krise der rechtsextremen Allukrainischen Vereinigung „Swoboda“, die aus der offen faschistischen Sozial-Nationalen Partei (1995) hervorgegangen ist, Erfolg. Nachdem sie ihre Rhetorik etwas abgeschwächt hatte, gelang es ihr, bei den Kommunalwahlen 2009 an Boden zu gewinnen, insbesondere in den westlichen Regionen. Diese Unterstützung wuchs weiter an, und bei den Parlamentswahlen 2012 erhielt Swoboda über 10 % der Stimmen. Eine Zeit lang verfügte die Partei auch über einen paramilitärischen Flügel, der sich „Patriot der Ukraine“ nannte, und der sich 2007 von ihr abspaltete. Wie in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern ist die extreme Rechte in der Ukraine seit den 1990er Jahren hauptsächlich auf der Straße aktiv und greift „alternative Jugendliche“, Farbige oder linke Aktivisten an. Mancherorts hat sie sich mit dem organisierten Verbrechen oder dem Sicherheitsapparat verbündet. Und wie in anderen Ländern brachte die Zeit nach der Krise einen Durchbruch in Form eines parlamentarischen Erfolgs. Das entscheidende Moment für die weitere Entwicklung waren jedoch der Euromaidan und die darauf folgenden Ereignisse.

Der unmittelbare Anlass für die Demonstrationen auf dem Unabhängigkeitsplatz war Janukowitschs Zögern bei der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens. Die Proteste begannen am 21. November 2013 und zogen zunächst einige Tausend Studenten, NGO-Aktivist*innen und oppositionelle Wähler an, die den Rücktritt der Regierung forderten. Die Zahl der Teilnehmer wuchs allmählich und die Demonstration entwickelte sich zu einer dauerhaften Besetzung des Platzes, ähnlich wie bei der Orangenen Revolution. Nach und nach kam es zu parallelen Aktionen in anderen Städten. Die Nachricht, dass die Vertreter*innen der Ukraine auf dem Gipfeltreffen in Vilnius das Assoziierungsabkommen nicht unterzeichnet hatten, und vor allem die ersten Versuche der Polizei, die Menge zu zerstreuen, lösten Unruhen aus und zogen Hunderttausende an.

Die Besetzung im Zentrum von Kiew wurde fortgesetzt, wobei sie sich auf nahe gelegene staatliche und städtische Gebäude ausdehnte und Angriffen der Polizei widerstand. Diese Angriffe zeigten zugleich, dass gewaltfreie Taktiken nicht nachhaltig waren und nicht zur Erfüllung der Forderungen führten. Mitte Januar 2014 begannen Gruppen bewaffneter Demonstranten, sich zu organisieren, um andere vor Polizeigewalt zu schützen. Die am besten vorbereiteten Kräfte waren die rechtsextremen Organisationen Swoboda und insbesondere der „Rechte Sektor“, der auf dem Maidan als Zusammenschluss mehrerer rechtsextremer Gruppen (darunter „Patriot of Ukraine“) auftrat. Zu diesem Zeitpunkt waren diese Gruppen bereits eine wirksame, lautstarke und erkennbare kollektive Kraft bei den Protesten, obwohl sie nur einen kleinen Teil der Demonstranten ausmachten. Außerdem gab es weitere Demonstrant*innen, die die Konfrontation mit der Polizei und bezahlten Schlägern nicht scheuten, so die Fußball-Hooligans, deren Basis sich teilweise mit der rechtsextremen Szene überschnitt. Diesen Gruppen gelang es, die Gewalttaktik im Wesentlichen zu monopolisieren. Ihr Mut – der sie Dutzende von Toten und Hunderte von Verletzten gekostet hat – hat ihnen nicht nur neue Anhänger*innen, sondern auch den Respekt der friedlichen Demonstrant*innen eingebracht.

Je massiver die Protestaktionen waren, desto kleiner wurde der Anteil der ursprünglichen Teilnehmer aus den Reihen der Student*innen und Aktivist*innen. Umfragen zufolge war der durchschnittliche Euromaidan-Teilnehmer ein Mann mittleren Alters, berufstätig, gebildet und aus der „Mittelschicht“, der sich mehr für innenpolitische Probleme (Oligarchenherrschaft, Korruption, Repression, die Unfähigkeit der Regierung, auf die Bedürfnisse der Bevölkerung einzugehen) als für den EU-Beitritt interessierte. Obwohl auf dem Maidan auch umfassendere soziale und wirtschaftliche Forderungen auftauchten, spielten sie eine weitaus geringere Rolle als die wichtigsten Slogans der parlamentarischen Opposition, die vorgezogene Wahlen und eine Änderung der Verfassung forderte. Versuche linker und feministischer Gruppen zu intervenieren blieben erfolglos.[29] Sie stießen auf die Hegemonie der Oppositionsparteien (Timoschenkos Batkiwschtschyna, Klitschkos UDAR), die von Anfang an die Prioritäten setzten, aber auch auf die Gewalt der extremen Rechten, die die Linke nicht zu erwidern bereit war. Die Massenbewegung des Euromaidan, die sich durch ein hohes Maß an Selbstorganisation und Selbsthilfe auszeichnete, blieb in dem Szenario „Straßenproteste – Annahme von Forderungen – Regierungswechsel“ gefangen. Daher suchte sie nicht nach anderen Mitteln der Eskalation als denen, die ihr von der Polizei auferlegt wurden, d. h. Gewalt. Der Euromaidan wurde nicht von Streiks begleitet, abgesehen von rein symbolischen Aktionen in Betrieben. Die Eskalation reichte jedoch aus, um die Regierung so sehr zu verängstigen, dass sie Ende Februar 2014 die Flucht ergriff.

Das unmittelbare Ergebnis der Proteste war eine neue Regierung. Für einen kurzen Zeitraum zwischen Februar und November 2014 regierte eine Koalition aus Batkiwschtschyna, UDAR und Swoboda, wobei letztere die Posten des stellvertretenden Ministerpräsidenten, des Landwirtschaftsministers, des Umweltministers und – für weniger als einen Monat – des Verteidigungsministers erhielt. Aus den vorgezogenen Wahlen im Oktober 2014 gingen jedoch die Volksfront) und der Block von Petro Poroschenko mit 40 % der Stimmen als Sieger hervor. Der Oppositionsblock, der Nachfolger von Janukowitschs Partei der Regionen, erhielt über 9 % der Stimmen, was vermutlich auch auf die sehr niedrige Wahlbeteiligung im Südosten zurückzuführen ist. Swoboda erhielt knapp fünf Prozent der Stimmen (sechs Sitze in einem Parlament mit 450 Sitzen) und der „Rechte Sektor“, der zu einer politischen Partei umgewandelt wurde, weniger als zwei Prozent (ein einziger Sitz). Somit konnte die extreme Rechte das Ergebnis von 2012 nicht wiederholen. Würden wir ihren Erfolg nur an ihrem formalen politischen Einfluss messen, würde es so aussehen, als ob ihre Aktivisten auf dem Euromaidan als Rammbock für die oligarchischen „Mainstream“-Parteien dienten, nur um dann schnell die Gunst der Öffentlichkeit zu verlieren.

Nach dem Euromaidan wurden die Positionen einiger Oligarchen geschwächt (Achmetow), andere blieben unangetastet (Wiktor Pintschuk, der oben erwähnte Schwiegersohn des ehemaligen Präsidenten Kutschma).[30] Gleichzeitig sind neue Gesichter in den Vordergrund getreten, wie der „Schokoladenkönig“ Petro Poroschenko oder Ihor Kolomoisky, ein späterer Unterstützer von Wolodymyr Selenskyj. Insofern das Ziel der Bewegung also darin bestand, die Oligarchen loszuwerden, kann dies kaum als erfolgreich bezeichnet werden. Angesichts der Tatsache, dass die Bewegung von Anfang an von den etablierten politischen Kräften dominiert wurde, die das Ziel der Proteste in einem Führungswechsel sahen, war ein anderes Ergebnis unwahrscheinlich.

Es ist jedoch unzutreffend, den Euromaidan als Putsch zu bezeichnen. Vielmehr handelt es sich um ein weiteres Beispiel für die Art von Bewegungen, die nach der letzten Krise typisch geworden sind. Sie haben eine breite Basis, die einen Querschnitt durch fast die gesamte Gesellschaft darstellt. Von der sozialen Zusammensetzung her kann man diese Bewegungen nicht als proletarisch bezeichnen – aber auch nicht als rein bürgerlich, kleinbürgerlich oder studentisch. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes „bürgerlich“ und ihre Teilnehmer verstehen sich als „Bürger“. Mobilisierungen dieser Art füllen manchmal die soziale Leere, die durch das Fehlen einer unabhängigen Arbeiter*innenbewegung entstanden ist – sei es aufgrund von Repressionen, vergangenen Niederlagen oder der Unfähigkeit von Kämpfen, die Grenzen zwischen Arbeitsplätzen oder Sektoren zu überschreiten und zu einer breiteren Bewegung zu werden. Die Beteiligung an dieser Art von Protest ist jedoch authentisch und nicht nur das Ergebnis von Manipulation oder einer Art „Machtspielchen“, wie es sich linke Verschwörungstheoretiker vorstellen. In Situationen der Demoralisierung und des allgemeinen Gefühls, dass „nichts geändert werden kann“, bieten diese Bewegungen zumindest eine gewisse Hoffnung, dass sich doch etwas verändert – und sie bieten die Möglichkeit, etwas Praktisches zu tun und sich einer Kultur der Solidarität und des kollektiven Widerstands anzuschließen. Andererseits ist es gerade ihre Heterogenität und „Bürgerlichkeit“, die sich in abstrakten Slogans (für „Würde“, „Wandel“, „Anstand“, gegen „Korruption“ usw.) manifestiert, und die anfällig für die Kooptation durch die etablierten bürgerlichen politischen Kräfte macht sowie schnell zu Desillusionierung führt. Diese Bewegungen sind vor allem auf der Straße präsent, mit wenig oder keinem Übergreifen auf die Arbeitsplätze. Ihre Taktik ist die Besetzung und Blockade des städtischen Raums. Diese Aspekte verbinden den Euromaidan mit vielen anderen Beispielen, zu dem auch Occupy Wall Street, der „Arabische Frühling“ oder die Bewegung in Hongkong 2019-2020 gehören.

Der Euromaidan markierte nicht nur das Wachstum der extremen Rechten, sondern auch das Entstehen ihrer besonderen Koalition mit der liberal-nationalistischen Rechten. Zu letzterer gehören neben politischen Parteien auch verschiedene Bürgerinitiativen, NGOs und breite Schichten der ukrainischen Intelligenz. Grundlage dieses Bündnisses ist ein Projekt eines Nationalstaates und einer Identität, die sich von der sowjetischen Vergangenheit, einschließlich ihrer eher lokal verankerten Elemente, distanziert. Russland wird lediglich als Quelle von Unterdrückung, Unterentwicklung und Bedrohung gesehen, während die ukrainische Geschichte als eine Reihe von Versuchen verstanden wird, sich von Russlands Einfluss zu befreien. Die mova, die ukrainische Sprache, wird als ein zentrales Merkmal der nationalen Identität und als Mittel zur Selbsterhaltung angesehen, das es zu schützen gilt. Ein Mangel an Loyalität gegenüber Elementen dieses Projekts wird als verdächtig angesehen. Umgekehrt bietet eine eindeutige Identifikation mit der mova die Möglichkeit, sich selbst zu läutern und andere „Mängel“ zu neutralisieren, wie etwa eine andere ethnische Zugehörigkeit oder eine queere Identität.

Es stimmt, dass es von Anfang an Meinungsverschiedenheiten über die Zukunftsperspektiven dieses nationalen Projekts gab. Während die extreme Rechte der europäischen Integration skeptisch bis ablehnend gegenübersteht, ist sie für liberale Nationalisten der einzig mögliche Weg in die Zukunft. Allerdings hatte die extreme Rechte beim Sturz Janukowitschs eine Schlüsselrolle, und ihre Verbundenheit mit dem nationalen Projekt steht nicht in Frage. Daher hat der bürgerliche Mainstream-Nationalismus gelernt, seinen extremen Cousin zu tolerieren, und er neigt dazu, seine Auswüchse zu übersehen und seine Gefahren zu unterschätzen.[31]

Dabei hatten weder das nationalistische Projekt als solches noch die Forderungen des Euromaidan allgemeine Unterstützung. In einer im März 2014 durchgeführten Umfrage bezeichnete ein Drittel der Befragten die Ereignisse auf dem Unabhängigkeitsplatz und die anschließenden politischen Entwicklungen entweder als Putsch oder als einen Konflikt innerhalb der ukrainischen Elite. Eine solche Einschätzung war im Osten des Landes am weitesten verbreitet. Etwa 40 % der ukrainischen Bevölkerung erwarteten von den Veränderungen eine teilweise oder erhebliche Verbesserung und fast der gleiche Anteil eine teilweise oder erhebliche Verschlechterung. Bereits im November 2013 kam es zu Demonstrationen, die als „Anti-Maidan“ bezeichnet wurden. Ursprünglich handelte es sich dabei um von oben organisierte Proteste zur Unterstützung der Partei der Regionen, die die Teilnehmer – häufig Beschäftigte des öffentlichen Dienstes – aus den Regionen herbeischaffte. Die so genannte Kommunistische Partei der Ukraine[32] organisierte in Zusammenarbeit mit dem Russischen Block kleinere Veranstaltungen gegen die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens (unter anderem mit der Behauptung, dies würde die Legalisierung der Homo-Ehe bedeuten) und für den Beitritt zur Zollunion mit Russland.

Im Donbas fand die Anti-Maidan-Rhetorik Widerhall, wenn es um die Zukunft der lokalen Industrie, insbesondere des Kohlebergbaus, ging, der durch europäische Konkurrenz oder Umweltstandards bedroht sei. Ebenso wichtig war der Gedanke, dass der Donbas den Rest des Landes seit Jahrzehnten mit seinen Produkten versorgt und daher ein größeres Mitspracherecht haben sollte – und sich schon gar nicht von Kiew herumkommandieren lassen solle.[33] Einigen mag zudem das russische Kapitalismusmodell mit relativ hohen Einkommen und Renten, die durch Öl- und Gasrenten finanziert werden, nach zwanzig Jahren gescheiterter Versuche, die Ukraine zu entwickeln, attraktiv erschienen sein. Aber hier spielte die Erfahrung eines relativen Rückgangs wahrscheinlich eine wichtigere Rolle als das absolute Niveau des Lebensstandards. Während 1995 die Durchschnittslöhne in den Gebieten Donezk und Luhansk bei 133 % bzw. 112 % des Landesdurchschnitts lagen, verschlechterte sich die Lage bis 2013, als die Quote nur noch bei 114 % bzw. 102 % lag.[34] Nach dem Zusammenbruch des Regimes im Februar 2014 radikalisierte sich die Anti-Maidan-Bewegung und wurde konfrontativer, insbesondere im Osten und Südosten. Es bildeten sich Selbstverteidigungsgruppen, die angeblich die „öffentliche Ordnung aufrechterhalten“ sollten und Proteste des gegnerischen Lagers angriffen.[35] Auch linke Rhetorik, die sich z. B. gegen die oligarchische Kontinuität des neuen Regimes richtete, tauchte auf. Aber die Forderungen nach einer Föderalisierung der Ukraine und mancherorts auch separatistische Forderungen setzten sich allmählich durch. Der Anti-Maidan verwandelte sich rasch in den „Russischen Frühling“.

…in Den Krieg

Die Halbinsel Krim ist von strategischer Bedeutung, da sich auf ihr das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte und ein wichtiger eisfreier Hafen befinden. Nach den ursprünglichen Vereinbarungen sollte der russische Pachtvertrag über die Halbinsel 2017 auslaufen. Im Jahr 2010 unterzeichnete Janukowitsch jedoch eine Verlängerung des Pachtvertrags um weitere 25 Jahre, im Gegenzug für günstigere Gaspreise. Es ist bekannt, dass die Kräfte in der neuen Regierung dieser Verlängerung nicht zugestimmt haben. Nach Janukowitschs Flucht nahmen die Ereignisse auf der Krim eine rasche Wendung. Bereits am 27. Februar tauchten nicht gekennzeichnete russische Truppen auf, besetzten wichtige Gebäude und verhinderten die Wahl eines neuen Ministerpräsidenten der Krim.[36] Das lokale Parlament genehmigte die Durchführung eines Referendums über die Unabhängigkeit. Es fand einige Wochen später unter der Aufsicht von Beobachtern europäischer rechtsextremer Parteien statt. Die Krim existierte jedoch nur wenige Tage als unabhängiger Staat. Bereits am 21. März wurden die Republik Krim und die föderale Stadt Sewastopol Teil der Russischen Föderation. Das Referendum war gefälscht, aber eine spätere unabhängige Umfrage deutet darauf hin, dass die Mehrheit der verbleibenden Bevölkerung der Krim die Annexion akzeptierte und sie der Alternative, d. h. dem Status quo ante, vorzog. Diese Ergebnisse sind auch vor dem Hintergrund der Instabilität und militärischen Eskalation zu sehen, die im Frühjahr 2014 begann. Noch im Februar 2014 sprachen sich nur 41 % der Krimbewohner für einen Anschluss an Russland aus, während es bei einer früheren Umfrage im Jahr 2013 nur knapp 36 % waren.

Im Osten und Südosten der Ukraine lösten sich nach dem Sturz der Regierung Janukowitsch die regionalen Netzwerke, die staatliche Strukturen mit Wirtschaftsinteressen verbanden, rasch auf.[37] In der neuen Situation konnten sich die lokalen Eliten ihrer Position nicht mehr sicher sein. Teile derselben wechselten auf die Seite der neuen Regierung, mit der sie akzeptable Bedingungen einer Zusammenarbeit aushandeln konnten. Damit trugen sie dazu bei, separatistische Bestrebungen in ihren Regionen zu befrieden oder zumindest in Richtung eines gemäßigten Föderalismus zu lenken. So waren beispielsweise die Versuche, in Odessa und Charkiw ethnische Konflikte zu schüren, erfolglos.[38]

In den Gebieten Donezk und Luhansk nahmen die Ereignisse jedoch eine andere Wendung. Ein Teil der lokalen Kapitalisten und Apparatschiks setzte auf Separatismus.[39] Im März 2014 kam es in beiden Regionen zu Demonstrationen mit mehreren tausend Teilnehmern, die versuchten, offizielle Gebäude zu besetzen. Im Laufe des nächsten Monats wurde der Konflikt allmählich militarisiert. In Luhansk besetzten über tausend Demonstranten das Gebäude des Geheimdienstes und plünderten das Waffenlager. Eine Gruppe bewaffneter Männer, die von einem russischen Veteranen des Balkan- und Tschetschenienkriegs angeführt wurde, traf von der Krim kommend in Slowjansk ein und spielte eine Schlüsselrolle bei den ersten Gefechten mit den ukrainischen Streitkräften. Eine wichtige Finanzierungsquelle für die Aktivitäten dieser Gruppen war der russische Investmentbanker Konstantin Malofeev.

Ein funktionierender kapitalistischer Staat würde es kaum zulassen, dass irgendeine Miliz oder quasistaatliche Formation die von einer Handvoll Menschen in einem besetzten kommunalen Gebäude ausgerufen wird, sein Gewaltmonopol in Frage stellt. Doch die Position der neuen Regierung in Kiew war wackelig: Die Unsicherheit, die nach dem Sturz von Janukowitsch einsetzte, breitete sich im gesamten Staatsapparat aus, einschließlich der Armee und der Polizei. Die „Anti-Terror-Operation“ (ATO) gegen die Separatisten wurde zwar bereits im April eingeleitet, brachte aber in den ersten Wochen keine nennenswerten Ergebnisse. In mehreren Fällen haben die Soldaten einfach kapituliert. Auch die Angst vor einem Eingreifen der russischen Armee, die rund 40.000 Mann an der Grenze zusammengezogen hatte, mag den ukrainischen Staat vorsichtig gemacht haben. Die so geschaffene Öffnung war groß genug für die selbsternannten Behörden in beiden Regionen, um die manipulierten „Unabhängigkeitsreferenden“ vorzubereiten, die am 11. Mai 2014 stattfanden. In der Zwischenzeit wurden die Streitkräfte der „Donezker Volksrepublik“ (DVR) und der „Luhansker Volksrepublik“ (LVR) durch zusätzliche Truppen von jenseits der russischen Grenze verstärkt. Sie setzten sich aus Veteranen oder Mitgliedern verschiedener faschistischer und nationalistischer Gruppen zusammensetzen. Dies war notwendig, weil es – wie der russische Kommandeur Girkin/Strelkov auf einer Pressekonferenz im Mai 2014 beklagte – einfach nicht genügend einheimische Freiwillige gab.

Zur gleichen Zeit begannen sich auf ukrainischer Seite paramilitärische Freiwilligeneinheiten zu bilden. Einige gingen aus den Selbstverteidigungseinheiten des Euromaidan (Aydar-Bataillon), der ultrarechten Swoboda-Partei (Sitsch-Bataillon), dem faschistischen „Patriot der Ukraine“ (Asow-Bataillon) und der neu gegründeten Partei „Rechter Sektor“ (Ukrainisches Freiwilligenkorps „Rechter Sektor“) hervor, während andere keine direkten Verbindungen zu politischen Organisationen hatten oder sich aus Fußball-Hooligans oder Mitarbeitern privater Sicherheitsdienste im Besitz der Oligarchen rekrutierten. Eine Reihe von Freiwilligeneinheiten entstand auch in Form von „Territorialen Verteidigungsbataillonen“, einem System von Abteilungen, die sich aus Reservisten der Streitkräfte zusammensetzten.[40] Kurz nach dem Sturz Janukowitschs wurde auch die so genannte Nationalgarde, eine militarisierte Polizeitruppe, die dem Innenministerium unterstellt ist, wieder ins Leben gerufen. Nach einigen Monaten wurde das Donbas-Bataillon demselben Ministerium unterstellt, ebenso wie das Asow-Bataillon, das vergrößert und in ein Regiment umgewandelt wurde. Andere Freiwilligeneinheiten (z. B. Sitsch) wurden in ähnlicher Weise als spezielle Polizeieinheiten („Special Tasks Patrol Police Service“) in das Innenministerium integriert. Aydar wurde später, im Jahr 2015, in ein reguläres Bataillon der Landstreitkräfte der Armee umgewandelt.[41] Anfänglich wurden diese Einheiten jedoch hauptsächlich von Oligarchen und aus öffentlichen Sammlungen finanziert. Die Tatsache, dass der ukrainische Staat bereitwillig die Hilfe von privat finanzierten Freiwilligen bei der Kriegsführung akzeptierte, ist ein weiteres Beispiel für seine anfängliche Schwäche.

Eingefrorener konflikt

Im Mai 2014 eskalierte der Konflikt mit den „Republiken“ zu einem konventionellen Krieg mit Panzern, Artillerie und Luftstreitkräften. Nach anfänglichen Schwierigkeiten erzielten die ukrainischen Streitkräfte – darunter auch Freiwilligenverbände – in den Sommermonaten eine Reihe von Erfolgen, obwohl die DVR und die LVR von russischen oder tschetschenischen Kämpfern unterstützt wurden. Im August 2014 war die ukrainische Armee kurz davor, die beiden Republiken auseinanderzureißen und einzukesseln. Ende des Monats schickte die Russische Föderation jedoch Tausende von Soldaten und erhebliche Mengen an Ausrüstung in den Donbas, unterstützt durch Artillerie- und Raketenbeschuss von russischem Gebiet aus. In der entscheidenden Schlacht um Ilowaisk erlitten die ukrainischen Truppen eine schwere Niederlage, die zur Unterzeichnung des ersten Minsker Abkommens (September 2014) beitrug. Beide Seiten verstießen jedoch von Anfang an gegen den Waffenstillstand und die „Republiken“ erzielten weitere Siege. Die sich verschlechternde Lage führte schließlich zur Unterzeichnung der zweiten Fassung des Abkommens (Februar 2015). Seitdem hat die Intensität des Konflikts abgenommen und der Krieg hat sich zu einem Grabenkrieg entwickelt. Die letzte größere Eskalation vor der Invasion im Jahr 2022 fand 2017 statt.

Acht Jahre Krieg haben mehr als 14.000 Menschen das Leben gekostet[42] und Millionen von Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Einige flohen nach Russland, während andere in den sicheren Teilen der Ukraine oder im Westen Zuflucht suchten. Menschenrechtsorganisationen haben zahlreiche Kriegsverbrechen – von beiden Seiten – dokumentiert, darunter außergerichtliche Tötungen, Vergewaltigungen, Folter, Entführungen, illegale Inhaftierungen und der Einsatz verbotener Munition.[43] Der Krieg verursachte enorme Schäden an der Infrastruktur und der Umwelt in der Region. In einer Studie aus dem Jahr 2020 wurden die Gesamtkosten für den Wiederaufbau des Donbas (natürlich vor der aktuellen Invasion) auf über 21 Mrd. USD geschätzt, was etwa 13 % des damaligen ukrainischen BIP entsprach.

Mit den Minsker Vereinbarungen konnte der Konflikt zwar eingefroren, aber nicht beendet werden. Nach dem ursprünglich von allen Seiten vereinbarten Fahrplan[44] sollte das gesamte Gebiet der Verwaltungseinheiten Donezk und Luhansk wieder in die Ukraine eingegliedert werden, allerdings mit einem größeren Maß an Autonomie. Ein Schritt in diese Richtung sollten Kommunalwahlen nach ukrainischem Recht sein, die von der OSZE überwacht werden sollten. Der ukrainische Staat weigerte sich, diese Wahlen abzuhalten, bevor die russischen Truppen und Ausrüstungen aus dem Donbas abgezogen waren. Die Vereinbarungen sahen jedoch nichts dergleichen vor – im Gegenteil, die Wiederherstellung der ukrainischen Kontrolle über die Staatsgrenzen sollte erst am Tag nach den Wahlen beginnen. Russland seinerseits bestand darauf, dass die Ukraine die Einzelheiten direkt mit den Vertretern der selbsternannten Staaten aushandelte, über die es angeblich keine Kontrolle hatte. Es weigerte sich auch wiederholt, die Verlängerung des Mandats der OSZE zu unterstützen, die gemäß den Vereinbarungen die Sicherheitslage an der Grenze überwachen sollte, und begann 2019 mit der Ausstellung russischer Pässe an die Bewohner*innen des Donbas. Vertreter der DVR und der LVR erklärten wiederholt, dass die „Republiken“ bald der Russischen Föderation beitreten würden – obwohl dies mit den Vereinbarungen unvereinbar wäre. 2015 und 2018 wurden trotz Protesten der OSZE (und der Ukraine) und unter Missachtung der Vereinbarungen Wahlen abgehalten.

Jeder der Akteure hatte etwas zu verlieren, wenn die Vereinbarungen umgesetzt würden. Die Führung der DVR und der LVR konnte sich ihrer Position nach freien Wahlen nicht sicher sein. Daher wollte sie nicht riskieren, dass diese ohne die Anwesenheit des russischen Militärs abgehalten würden. Für Russland waren die „Republiken“ ein nützliches Instrument der Kontrolle über die Ukraine – zunächst vor allem in militärischer, in Zukunft vielleicht auch in politischer Hinsicht. Die Abkommen enthielten jedoch keine eindeutige Garantie dafür, dass der russische Einfluss auch nach dem Ende des Konflikts und der Auflösung der beiden Teilstaaten aufrechterhalten werden konnte. Für die ukrainische Regierung stellte die Bevölkerung des Donbas eine Bedrohung dar, insbesondere für die politischen Parteien, die bis 2019 an der Macht waren. Es war davon auszugehen, dass die Bevölkerung des Donbas nicht die Kräfte unterstützen würde, die seit mehreren Jahren Militäroperationen vor ihrer Haustür durchgeführt hatten. Die Eingliederung des Territoriums der „Republiken“ in die Ukraine oder in Russland wäre zudem für jeden der beiden Staaten mit erheblichen Kosten für den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur verbunden.

Die Extreme Rechte Nach Dem Euromaidan

Der Hauptgegner der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen in der Ukraine war die extreme Rechte. Im August 2015, als das Parlament über das Gesetz über den Sonderstatus der beiden Regionen (wie in den Vereinbarungen vorgesehen) abstimmte, kam es zu Unruhen, bei denen ein Kämpfer des Sitsch-Bataillons drei Angehörige der Nationalgarde mit einer Granate tötete und mehr als hundert Menschen verletzte. Die faschistischen und nationalistischen Organisationen lehnten jeden Kompromiss mit den Separatisten kategorisch ab und betonten, dass die Minsker Abkommen für die Ukraine unvorteilhaft seien und unter Androhung einer drohenden Niederlage unterzeichnet wurden.[45] Danach mussten die etablierten politischen Parteien auch die möglichen Reaktionen dieses Teils der Opposition berücksichtigen, falls sie zu viele Zugeständnisse machen würden.

Dies ist ein gutes Beispiel für den Einfluss, den die extreme Rechte nach dem Euromaidan aufbauen konnte. Es stimmt, dass ihre Positionen im Parlament und in den lokalen Regierungen mit jeder Wahl schwächer geworden sind. Dies sagt jedoch wenig über ihren Einfluss in der „Zivilgesellschaft“ aus. Schon vor 2013 war Swoboda die aktivste politische Partei, was Straßenproteste angeht. Die Siege bei den Scharmützeln auf dem Unabhängigkeitsplatz waren für Faschisten und Nationalisten eine großartige PR, ebenso wie die Rolle und die Opfer der Freiwilligenbataillone im bewaffneten Konflikt, deren Schlüsselschlachten Teil der nationalen Ikonografie wurden. Die Situation wurde von Asow am besten ausgenutzt.[46] Nach deren Eingliederung in die Nationalgarde wurden die ursprünglichen Kommandeure durch Berufssoldaten ersetzt. Die ehemalige Führung wandelte jedoch die angeschlossene zivile Organisation, das Zivilkorps „Asow“, nach und nach in eine politische Partei um, das Nationalkorps. Während die Wahlergebnisse dieser Gruppe kaum beeindruckend sind, wird ihre Mitgliederzahl auf zehn- bis fünfzehntausend Menschen geschätzt. Die Gruppe verfügt über eigene Kulturzentren, veröffentlicht Bücher in einem eigenen Verlag und diskutiert sie in einem Literaturklub, mobilisiert die öffentliche Unterstützung durch Wohltätigkeitskampagnen, Sportveranstaltungen und ein Sommerfest, indoktriniert und bildet Jugendliche im sogenannten Jugendkorps aus, ist aber auch ein wenig an Kämpfen am Arbeitsplatz interessiert.[47] Sie ist im „bürgerlichen Leben“ viel aktiver als viele etablierte Parteien und auch die paramilitärische Nationale Druschina (später in „Centuria“ umbenannt). Kurz gesagt, „Patriot der Ukraine“, ursprünglich eine unbedeutende rechtsextreme Organisation, hat – dank der Gewalteskalation auf dem Euromaidan und der anschließenden Militarisierung des Konflikts – geschafft, was der extremen Rechten in vielen europäischen Ländern nicht gelungen ist. Sie hat eine soziale Bewegung aufgebaut, die verschiedene Gruppen von Menschen an vielen verschiedenen Fronten erreichen kann.[48]

Das Asow-Regiment wurde formell entpolitisiert, indem es in das Innenministerium integriert wurde, aber es gibt weiterhin eine Zusammenarbeit und verschiedene persönliche Verbindungen zwischen ihm und der zivilen Version von Asow. Das „Asow-Phänomen“ wird oft falsch charakterisiert. Seine Ideologie ist kein Neonazismus, sondern eher eine moderne Variante des Faschismus, die sich auf die lokalen Traditionen des integralen Nationalismus stützt.[49] Es stimmt auch nicht ganz, dass die Ukraine zu einer Art globalem Zentrum der extremen Rechten geworden ist. Obwohl ukrainische Faschisten Kontakte zu einigen verbündeten Organisationen im Ausland unterhalten, haben sich die berüchtigtsten faschistischen Kräfte in Europa in dem Konflikt auf die Seite Russlands gestellt.[50] Dies war einer der Gründe, warum Swoboda 2014 aus der Allianz der europäischen nationalen Bewegungen austrat, wo sie einen Beobachterstatus hatte. Asow und andere rechtsextreme Kräfte haben auch keine wirkliche Kontrolle über den ukrainischen Staat. Sie verfügen über politische Verbindungen, die sie ausnutzen konnten,[51] aber ansonsten sehen sie sich in der Opposition und betrachten die Regierungsparteien als ihre Feinde.

Dennoch wäre es ein Fehler, die ukrainische rechtsextreme Szene zu unterschätzen. Nach 2013 ist es ihr gelungen, Kampferfahrung und Zugang zu Waffen zu sammeln. Seitdem konzentriert sie sich auf den Aufbau von Parallelstrukturen, die noch besser darauf vorbereitet sind, eine Chance wie die des Euromaidan zu nutzen. Gleichzeitig stellen faschistische und nationalistische Militante bereits eine echte Gefahr für die ukrainische Linke, die feministische Bewegung, die Roma und queere Menschen dar.[52]

Anti-Volksrepubliken

Nach dem Euromaidan standen die Kapitalisten im Donbas plötzlich ohne ihren früheren Einfluss im ukrainischen Staat da. Das Assoziierungsabkommen mit der EU bedrohte ihre wirtschaftlichen Interessen, die an günstige Handelsbedingungen mit dem postsowjetischen Raum und niedrige Gaspreise gebunden gewesen waren. Im Frühjahr 2014 konnte ihnen der Anti-Maidan daher als bequemes Instrument erscheinen, um Druck auf Kiew auszuüben, was zu einem neuen Kompromiss innerhalb der Kapitalistenklasse, einer neuen Aufteilung der Einflusssphären führte. Dieser Kompromiss hätte verschiedene Formen annehmen können, aber die extremste Option wäre die Föderalisierung gewesen. Die vollständige Unabhängigkeit der Gebiete Donezk und Luhansk oder ihr Anschluss an die Russische Föderation lag nicht im Interesse des Großkapitals im Donbas. Beide Optionen stellten eine größere Gefahr für ihre Interessen dar als die Ausgangssituation nach dem Euromaidan. Die Unabhängigkeit hätte zu einem schwachen Staat geführt, wahrscheinlich ohne internationale Anerkennung, ohne oder mit erschwertem Zugang zum Weltmarkt und mit abgebrochenen Verbindungen zur übrigen Ukraine. Nach der Integration in Russland hätten die Oligarchen auf ihren politischen Einfluss verzichten müssen. Selbst wenn für sie ein Platz in Putins konsolidierter „Machtvertikale“ gefunden worden wäre, hätte die Zugehörigkeit zu dieser Vertikale den Verzicht auf jegliche Unabhängigkeit bedeutet. Auch aus wirtschaftlicher Sicht war die Annexion keine attraktive Perspektive, da die Unternehmen im Donbas auf dem russischen Markt einem viel stärkeren Wettbewerb ausgesetzt worden wären.

Das Kalkül der Donbas-Elite, von der wir in einem früheren Abschnitt sprachen, ist also nicht aufgegangen. Anstatt einen annehmbaren Kompromiss mit der Kiewer Macht zu finden, geriet der Anti-Maidan außer Kontrolle und führte aufgrund der russischen Intervention zur Entstehung neuer Kleinstaaten. Deren Führung bestand aus wenig bekannten Personen. Es handelte sich um Kapitalisten der zweiten bis dritten Reihe (der Besitzer einer Seifenfabrik, der ehemalige Direktor einer Fleischverarbeitungsfabrik, der Besitzer eines Brennstoff- und Ölgeschäfts, ein Kohlehändler), verschiedene Lakaien (ein politischer Vermarkter mit neonazistischer Vergangenheit, der ehemalige Manager von Achmetows Fußballmannschaft, ein Assistent eines Abgeordneten), professionelle Gauner sowie einige Mitglieder des (ukrainischen oder russischen) Sicherheitsapparats. Für die ehemaligen Machthaber des Donbas wie Achmetow war die neue Situation eine Katastrophe.

Der örtliche Bergbau und das verarbeitende Gewerbe waren plötzlich außer Reichweite ihrer Herren und befanden sich in ernsten Schwierigkeiten. Viele Betriebe wurden durch die Kämpfe beschädigt, andere verloren Zulieferer oder Kunden. Auch die Infrastruktur wurde in Mitleidenschaft gezogen. Die „Republiken“ verloren durch die Abwanderung zudem viele Arbeitskräfte und einheimische Unternehmer.[53] Sie waren von staatlichen Subventionen und Investitionen abgeschnitten. Der Produktionsrückgang verringerte die Steuerbasis und die Zolleinnahmen. Infolgedessen brach der einstige Kern der Wirtschaft im Donbas zusammen, und die kleinen Staaten waren nicht in der Lage, das durch den Krieg Zerstörte wieder aufzubauen, geschweige denn eine weitere Entwicklung in Gang zu setzen.

Die Regime in der DVR und der LVR waren Russland militärisch, politisch und wirtschaftlich untergeordnet und praktisch von Anfang an auf dessen Hilfe angewiesen. Die Unterstützung war jedoch auf das beschränkt, was im Hinblick auf die russischen Interessen notwendig war. In den acht Jahren des Bestehens der „Republiken“ gab es keine nennenswerten Kapitalinvestitionen zur Modernisierung der alten industriellen Basis der Region.[54] Die Hilfe erfolgte hauptsächlich in Form von humanitären Rationen, der Versorgung von Geschäften mit russischen Lebensmitteln, Strom- und Gaslieferungen oder der Möglichkeit für die Bevölkerung, zum Arbeiten nach Russland zu reisen. Die Wirtschaft der besetzten Gebiete wurde zwar von der Griwna auf den Rubel umgestellt, aber ohne wirkliche Integration in das globale oder zumindest russische Finanzsystem. Die meisten alltäglichen Transaktionen wurden bar abgewickelt, es gab nur wenige Geldautomaten und ihre Benutzung war mit hohen Gebühren verbunden.

Im Jahr 2017 kündigte die DVR die Verstaatlichung von 43 Unternehmen an. Dies war auch eine Reaktion auf die Blockade des Güterverkehrs durch die Ukraine, die 2016 als spontane Aktion von Veteranen und Nationalisten begann, um die Freilassung von Kriegsgefangenen zu erreichen. Später wurde sie vom ukrainischen Staat offiziell gemacht. Die Blockade machte es unmöglich, Rohstoffe aus dem Westen in den Donbas zu bringen, während gleichzeitig die Ausfuhr von Fertigwaren verhindert wurde. Ziel der Verstaatlichung war es, alle alten Bindungen zu lösen und den Prozess der Neuorientierung einzuleiten.

Der Teil der produktiven Wirtschaft der DVR und der LVR, der Verbindungen zu Kunden in der russischen strategischen Industrie (z. B. Metallurgie für die Rüstungsindustrie) hatte, kam nach der Verstaatlichung unter die Kontrolle von Wneschtorgservice (WTS, „Außenhandelsdienst“). Dieses Unternehmen ist in Südossetien registriert und steht in Verbindung mit Janukowitschs ehemaligem Schatzmeister Serhiy Kurchenko, der in der Ukraine wegen milliardenschwerer Betrügereien bei Gasexporten vor Gericht steht. Die WTS spielte in den besetzten Gebieten eine besondere Rolle. Bis zum Einmarsch in diesem Jahr erkannte Russland die Existenz der beiden „Republiken“ nicht formell an. Es erkannte jedoch die Unabhängigkeit Südossetiens an, das seinerseits sowohl die DVR als auch die LVR anerkannte. Das Unternehmen war somit in der Lage, gültige Exportdokumente für den Transport von Waren aus den besetzten Gebieten nach Russland auszustellen. Das Geschäftsmodell der WTS beruhte auf drei Prinzipien: politisch vermittelte Kontakte zu Kunden in Russland, extreme Ausbeutung der Arbeitskräfte und ein rein parasitäres Verhältnis zur veralteten technologischen Basis des Donbas.

WTS bot Berichten zufolge auch Absatzmöglichkeiten für einen anderen wichtigen Teil der Industrie im Donbas – den Kohlebergbau. Nach Schätzungen des ukrainischen Gewerkschafters Mykola Volynko war im Jahr 2020 jedoch nur noch weniger als ein Drittel der siebzig Bergwerke in den besetzten Gebieten in Betrieb. Dort wurde vor allem Anthrazitkohle für die Koksproduktion gefördert, ein Abbau, der am rentabelsten war und für den es einen garantierten Markt gab. Ein Teil der Kohle wurde auch unter dem Deckmantel der WTS illegal in die Ukraine reimportiert. Andere Bergwerke wurden durch den Krieg zerstört oder ihre Produktion war ohne Subventionen (die der ukrainische Staat natürlich nicht mehr gewähren wollte) nicht tragfähig und mussten geschlossen werden. Viele sind überflutet, was schwerwiegende Folgen für die Trinkwasserbrunnen der Bewohner*innen hat. Aus den Minen treten giftige Stoffe aus, so dass eine ökologische Katastrophe droht.[55]

Natürlich wirkten sich die wirtschaftlichen Schwierigkeiten unmittelbar auf den Lebensstandard aus. Die Löhne der Bergleute gehören zu den höchsten in den „Republiken“ und betrugen Ende 2019 etwa 16-17.000 Rubel pro Monat (damals etwa 250 €). In der übrigen Ukraine lag der Durchschnittslohn für Bergleute jedoch bei etwa 15.000 UAH (ca. 470 €). In anderen Sektoren in der DVR und der LVR ist die Einkommenssituation noch schlechter: Der Durchschnittslohn liegt bei 8-10.000 Rubel (bis zu 150 €), Verdienste über 12.000 Rubel gelten als sehr gut.[56] Im Bergbau und in der verarbeitenden Industrie ist die Nichtauszahlung von Löhnen ein chronisches Problem, das im Donbas eine lange Tradition hat: Oft sind Arbeitsniederlegungen die Folge. Eine alternative Karriere für körperlich fitte Männer, die mit einem regelmäßigen Einkommen verbunden ist, bietet die Armee.[57]

Nach dem Einfrieren des Konflikts gab es in den Geschäften der „Republiken“ keine akute Warenknappheit. Den Einwohner*innen zufolge liegt das größere Problem in den Preisen, die ihrer Meinung nach denen im russischen Grenzgebiet nahe kommen. Daten über die Zahl der Migrant*innen aus der DVR und der LVR, die in Russland arbeiten, liegen nicht vor, aber die lokalen Websites für die Arbeitssuche sind voll von Angeboten, die einen deutlich höheren Verdienst versprechen, z. B. in Rostow am Don. Der Zusammenbruch der lokalen Industrie sowie die COVID-19-Pandemie haben außerdem die Voraussetzungen für Fernarbeit in der Gig-Economy oder in Call-Centern für Kunden in Russland geschaffen.[58]

Die sich verschlechternde Situation führte zu vielen Protestaktionen. Bereits 2016 streikten Arbeiter in mehreren Bergwerken in Makeyevka (DVR) und forderten höhere Löhne. Sie wurden als Verräter und Saboteure gebrandmarkt und von den Sicherheitsdiensten überwacht. Eine weitere, größere Welle der Unzufriedenheit kam im Jahr 2020. Eine interne Liste von Bergwerken, die geschlossen werden sollten, wurde an die Öffentlichkeit weitergegeben. Daraufhin weigerten sich fünfzig Bergleute des Bergwerks Nykanor-Nova (Zorynsk, LVR) Anfang Mai, die Arbeit aufzunehmen. Sie blieben sechs Tage lang unter Tage, während ihre Ehefrauen oben demonstrierten. Der Grund für den Protest war nicht nur die geplante Schließung, sondern auch die in den letzten zwanzig Monaten aufgelaufenen Lohnrückstände. Mit dem Streik konnte zwar eine teilweise Rückzahlung der ausstehenden Löhne erreicht werden, aber die Pläne der Unternehmensleitung konnten nicht geändert werden. Der Protest weitete sich in der Folge auf vier weitere Bergwerke aus, in denen ebenfalls seit mehreren Monaten unentgeltlich gearbeitet wurde. Allerdings gelang es nur etwa hundert Bergleuten aus dem Bergwerk Komsomolskaja bei Antracyt (LVR), unter Tage zu gelangen, bevor die Behörden reagieren konnten. Ihr Protest führte zur sofortigen Begleichung eines Teils der ausstehenden Löhne. Als das Unternehmen freilich die nächste Zahlungsfrist nicht einhielt, beschlossen die Bergleute, ihren Kampf fortzusetzen. Die Behörden waren jedoch nunmehr vorbereitet: Sie stellten den Bergleuten den Strom ab, blockierten Mobilfunknetze und das Internet an der Oberfläche und riegelten die gesamte Stadt ab, um Solidaritätsaktionen zu verhindern. Der MGB (lokales Pendant des KGB) leitete eine Untersuchung gegen die Streikorganisator*innen und ihre Familien ein. Über zwanzig Personen wurden verhaftet. Im Juni protestierten rund zweihundert Kolleg*innen und Angehörige vor den örtlichen Behörden und forderten ihre Freilassung, garantierte Straffreiheit und die Zahlung von zwei Monatslöhnen. Der Protest war erfolgreich, aber wiederum nur teilweise.[59]

Die Tatsache, dass streikende Bergarbeiter für das Ministerium für Staatssicherheit von Interesse sind, verdeutlicht den politischen Charakter der DVR und der LVR. Die Regime haben jegliche Opposition von Anfang an weitgehend ausgeschaltet: 2014-2016 wurden Hunderte von Journalisten, pro-ukrainischen Aktivisten und andere vermeintliche Feinde illegal in Internierunglagern und Podwalen (Kellern) inhaftiert, wo sie Folter, Scheinhinrichtungen oder sexueller Gewalt ausgesetzt waren. Unabhängige Gewerkschaften und andere Organisationen der Arbeiter*innen gibt es seitdem nicht mehr oder sie werden, wie im Fall der Bergarbeiter, sofort verfolgt. Ganz im Sinne der sowjetischen Tradition beschränken sich die Funktionen der offiziellen Gewerkschaften auf das Angebot von Freizeitaktivitäten und Repression.

Die Abhängigkeit der beiden Staaten von Russland zeigt sich auch in politischer und militärischer Hinsicht. Nach 2014 hat die russische Armee nicht nur als Hilfstruppe an der Seite der Separatisten interveniert. Die sogenannten Volksmilizen der DVR und der LVR unterstehen faktisch dem Kommando des Südlichen Militärbezirks der Streitkräfte der Russischen Föderation. Die Reihen der lokalen Befehlshaber sowie der Zivilverwaltung wurden durch eine Reihe von Säuberungen dezimiert, bei denen diejenigen, die zu unabhängig waren, entfernt wurden.[60]

Wenn der echte Stalinismus eine Tragödie war, so wird er in den „Republiken“ in der Ostukraine als Farce wiederholt: mit Terror, Propaganda, „Volksgerichten“, manipulierten „Wahlen“, sozialer Kontrolle und Sklavenarbeit, aber ohne die fieberhafte Modernisierung, den steigenden Lebensstandard und die Massenmobilisierung. Die völlige Perspektivlosigkeit, die achtjährige Ausgangssperre und die erschwerten Reisemöglichkeiten (z. B. auf der Suche nach Bildung, da die Diplome der örtlichen Universitäten nirgendwo anerkannt werden) sind für die Jugend besonders belastend.[61] Ukrainische Journalisten baten kürzlich einen 25-jährigen, zwangsmobilisierten Kriegsgefangenen aus der DVR um einen Vergleich zwischen Donezk, Charkiw und dem slowakischen Bratislava, wo er 2020 eine Zeit lang gearbeitet hatte.[62] Seine Antwort wird slowakische Leser*innen sicher zum Schmunzeln bringen: „Donezk – graue Hoffnungslosigkeit. Charkiw – tolle, pro-europäische, schöne Stadt. Bratislava – na ja, das ist Europa!“ Er sagte, er wäre am glücklichsten, wenn die Dinge wieder so wären wie vor 2014. Eine unabhängige Umfrage aus dem Jahr 2019 zeigte jedoch die ganze Bandbreite der Einstellungen der Menschen in der DVR und der LVR. Fast ein Drittel wollte Autonomie innerhalb der Ukraine und über 23 % wollten einen Anschluss an die Ukraine ohne Autonomie, aber über 18 % waren für einen Anschluss an die Russische Föderation und über 27 % für Autonomie innerhalb der Russischen Föderation.

Die Kämpfe der Bergleute und anderer Arbeiter*innen in den besetzten Teilen der Ukraine im Jahr 2020 blieben nicht unbeantwortet. Vneshtorgservis war nicht in der Lage, die enormen Lohnrückstände zu begleichen, und so kündigte die Führung der DVR und der LVR im Juni 2021 an, dass ein „neuer Investor“ in den Donbas kommen würde. Jene Unternehmen, die bisher unter der Kontrolle der WTS standen, wurden von dem Unternehmen JuGMK („Südlicher Bergbau- und Metallurgiekomplex“) übernommen, das einem relativ wenig bekannten Geschäftsmann, Jewgeni Jurtschenko gehört. Dieser hat eine Geschäftsbeziehung zu Konstantin Malofeev, einem Unterstützer des Anti-Maidan und des „Russischen Frühlings“. Einige andere Betriebe werden jetzt von „Herkules“ kontrolliert, einem Unternehmen, das Ihor Andreev gehört. Dieser Donezker Geschäftsmann, der in der Lebensmittelindustrie und Metallurgie tätig ist, rangierte 2012 auf Platz 148 einer Liste der reichsten Ukrainer. Nach der Gründung der „Republiken“ war er auch an der Ausfuhr von Metallschrott aus zerfallenden Fabriken beteiligt.

Die Pläne dieser neuen Kapitäne der Donbas-Industrie sehen eine erhebliche Steigerung der Produktion vor. Bisher scheint es ihnen zumindest gelungen zu sein, einige Schulden zu begleichen: Glaubt man den offiziellen Pressemitteilungen, so ist der Gesamtbetrag der Lohnrückstände in der DVR von 2,5 auf „nur“ 1,9 Milliarden Rubel (etwa 29 Mio. EUR) gesunken. Im Metallurgischen Werk Alchevsk (LVR) soll Jurtschenko alle Lohnrückstände bei den Beschäftigten beglichen haben. Etwa zur gleichen Zeit wurde bekannt gegeben, dass ein neuer Erlass von W. W. Putin es lokalen Unternehmen ermögliche, sich um öffentliche Aufträge in Russland zu bewerben. Auch die Ausfuhr- und Einfuhrquoten für Waren aus dem Donbas sollten aufgehoben werden. Drei Monate später begann die Invasion.

Kapitalistische Entwicklung Unter Den Bedingungen Des Krieges

Vor allem in den Anfangsjahren hatte der Konflikt erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung der ukrainischen Wirtschaft und Politik. Die Unterbrechung von Lieferketten, die Zerstörung oder der Verlust von Produktionskapazitäten aufgrund der Besetzung sowie die Flucht von Hunderttausenden von Menschen führten dazu, dass das Land nicht von dem rund sechsjährigen globalen Boom profitieren konnte, der ein Jahr nach dem Euromaidan einsetzte. Stattdessen fiel die Ukraine 2014-2015 in eine tiefe Rezession, von der sie sich danach nicht mehr vollständig erholte. Der Anteil der Kapitalinvestitionen an der Gesamtwirtschaft fiel auf einen historischen Tiefstand. Der Verfall des Wechselkurses der Griwna erschütterte den lokalen Finanzsektor, und Dutzende von Banken gingen in Konkurs oder verloren ihre Zulassung.[63] Die durchschnittlichen Reallöhne sanken in den zwei Jahren des heißen Krieges um 25 %, und die Nichtzahlung von Löhnen wurde erneut zu einem Massenphänomen. Der Anteil der Menschen mit einem Einkommen unterhalb des realen Existenzminimums stieg zwischen 2014 und 2015 von weniger als 17 % auf mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Er ist zwar in den Folgejahren zurückgegangen, hat aber noch nicht wieder das ursprüngliche Niveau erreicht.[64] Diese wirtschaftliche und soziale Katastrophe ist vergleichbar mit dem Schicksal Griechenlands nach 2008. In diesem Fall war sie jedoch auch von einer Militarisierung begleitet.[65]

Die Ukraine erhielt drei Milliarden Dollar aus dem von Janukowitsch ausgehandelten russischen Kredit. Aufgrund des Krieges weigerte sie sich jedoch, diesen zurückzuzahlen. Stattdessen wandte sie sich erneut an den IWF, der bereits im April 2014 ein neues Kreditpaket genehmigte. Dessen Volumen wurde schrittweise auf 17,5 Milliarden Dollar erhöht. Im Juni 2014 unterzeichnete das Land auch das EU-Assoziierungsabkommen, aber es dauerte fast drei Jahre, bis es von allen Mitgliedstaaten ratifiziert wurde. Mit dem Abkommen wurden die meisten Zölle abgeschafft, aber auch Schutzfristen eingeführt, insbesondere für die Einfuhr bestimmter Warenarten aus der Union, wie Autos und einige landwirtschaftliche Erzeugnisse. Infolgedessen stiegen die ukrainischen Ausfuhren in die EU zwischen 2016 und 2021 um 87 %. Das Abkommen hat auch die Freizügigkeit von Arbeitskräften erleichtert: Seit Juni 2017 können Bürgerinnen und Bürger mit einem biometrischen Pass (für 90 Tage) ohne Visum in die Mitgliedsstaaten reisen. Etwa zu dieser Zeit begann beispielsweise der Anteil der ukrainischen Arbeitskräfte auf dem slowakischen Arbeitsmarkt zu wachsen und überholte schnell den Anteil der Arbeitskräfte aus anderen Ländern. Die Ausweitung der Arbeitsmigration lässt sich auch am Verhältnis der Rücküberweisungen zum ukrainischen BIP ablesen.

Das IWF-Programm enthielt alle bekannten Bedingungen: Kürzung der Energiesubventionen für Haushalte, Privatisierung, Haushaltsverantwortung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit. Eines der Ziele war die Verbesserung des Geschäftsumfelds und die Anziehung ausländischer Investitionen. Die Fortschritte der Ukraine in diesen Bereichen waren jedoch sehr uneinheitlich. Was die Privatisierung anbelangt, so konnte der Staat einige Minderheitsbeteiligungen an regionalen Energieunternehmen verkaufen und eine Reihe kleinerer Projekte durchführen. Bei der Privatisierung größerer Unternehmen gab es jedoch Probleme. Ein Beispiel ist ein Werk am Hafen von Odessa, das einst der größte Hersteller von Ammoniak und Harnstoff für die DüngemitteLVRoduktion in der Sowjetunion war. Drei Versuche, es zu veräußern, sind gescheitert, da das Werk durch Schulden aus Gaseinkäufen und Streitigkeiten über das Ergebnis früherer Privatisierungsrunden belastet ist. In der Zwischenzeit sind die Anlagen des Werks veraltet und der Verkaufspreis sinkt. Derzeit sind 25 anstehende „große“ Projekte (einschließlich des Werks in Odessa), ein erfolgreich abgeschlossenes Projekt und ein laufendes Projekt auf dem 2020 eingerichteten Online-Privatisierungsportal in Planung. In der Öffentlichkeit ist die Überführung von Staatsbetrieben in private Hände freilich nach wie vor unpopulär, ebenso wie der Verkauf von landwirtschaftlichen Flächen. Laut einer Umfrage von Ende 2021 halten nur 11 % der Menschen die Umsetzung der Programme westlicher Institutionen für den richtigen Weg, um die Entwicklung der Ukraine zu beschleunigen.[66] Andererseits haben die Privatisierungspläne in den letzten Jahren keine nennenswerten Proteste oder Streiks ausgelöst.[67]

An anderer Stelle kommt es aber durchaus zu Protesten. Ein Beispiel: Eine dreiköpfige Familie mit durchschnittlichem Einkommen, die in einer Zweizimmerwohnung in Kiew lebt, gab 2013 etwa 6 % ihres Einkommens für Stromrechnungen aus. Im Jahr 2020 waren es mehr als 16 %. Die steigenden Preise sind nicht nur eine indirekte Folge der staatlichen Politik, sondern hängen direkt mit ihr zusammen, denn zu den Reformen gehörten die Deregulierung des Verbrauchergasmarktes oder die Abschaffung der „Vorzugstarife“ für Strom. Diese Schritte wurden mit Protesten beantwortet. Im Jahr 2016 organisierten die Gewerkschaften in Kiew eine Demonstration mit 50.000 Teilnehmer*innen, wahrscheinlich die größte seit dem Euromaidan. Neben der Anhebung des Mindestlohns forderten sie einen Stopp der steigenden Energiepreise. In bescheidenerer Form wurde sie zwei Jahre später wiederholt, und auch in den anderen Regionen gab es kleinere Proteste – zuletzt im vergangenen Jahr. Sie konnten jedoch den Anstieg der Lebenshaltungskosten nicht stoppen.

Obwohl die Energiepreise stiegen, wurden die Löhne der Beschäftigten im Kohlebergbau nicht erhöht. Der Abbau des Staatsdefizits im Namen der „Haushaltsverantwortung“ bedeutete auch eine Kürzung der Subventionen für den Bergbausektor. Es gab zahlreiche Proteste gegen die Nichtauszahlung der Löhne oder die geplante Schließung von Bergwerken mit Slogans wie „Der hungrige Bergmann – die Schande der Ukraine“. Bergleute aus dem unbesetzten Teil des Oblast Luhansk blieben sieben Tage lang unter Tage und kämpften für die Zahlung der in den letzten Monaten bis Jahren aufgelaufenen Lohnrückstände. Die sich verschlechternde Lage in der Branche führte auch zu einigen Verzweiflungstaten. Im Jahr 2016 versuchte der Vorsitzende der unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft aus dem Oblast Donezk, sich im Gebäude des Energieministeriums selbst anzuzünden. Es fanden außerdem mehrere Hungerstreiks statt. Die Aktionen der Bergleute waren zudem nicht auf den Donbas beschränkt. Bei mehreren Gelegenheiten blockierten Bergleute im Westen der Ukraine die Autobahn nach Polen oder traten in den Streik. Im Jahr 2020 weigerten sich ihre Kollegen aus Krywyj Rih, auszufahren. In den Bergwerken, die Achmetow und Kolomoisky gehören, wird Eisenerz für die lokale Stahlindustrie sowie für das US-Stahlwerk in Košice (Slowakei) gefördert. Die Arbeiter*innen forderten eine Änderung des Lohnsystems sowie Investitionen in die veraltete Ausrüstung, die mehrere Unfälle verursacht hatte.

Neben den Bergarbeitern als typischen Vertretern der „alten“ Arbeiter*innenklasse, die mit dem langfristigen Niedergang ihres Sektors konfrontiert sind, wurden in den letzten Jahren auch andere Sektoren mobilisiert, wenn auch in geringerem Maße.[68] Bei der Eisenbahn wehrten sich die Arbeiter*innen gegen den neuen, stärker an einem durchgestylten Management orientierten Ansatz des Arbeitgebers und erklärten wiederholt einen „italienischen Streik“, d. h. ein bewußtes, koordiniertes langsam Arbeiten.[69] Während der Pandemie waren die Gewerkschaften im Gesundheitswesen aktiv, insbesondere im Hinblick auf die Nichtzahlung von Löhnen und Prämien.[70] Verschiedene Kämpfe und Organisierungsversuche wurden bis zum Krieg fortgesetzt. So streikten beispielsweise die Lehrer von zwanzig Schulen in den Unterkarpaten im Herbst 2021 und forderten die Zahlung ausstehender Löhne (insgesamt über 600.000 Euro). Etwa zur gleichen Zeit begann ein begrenzter Streik der Kiewer Kuriere der Firma Bolt, die einen garantierten Mindesttageslohn forderten.[71]

Auch das ArcelorMittal-Werk in Krywyj Rih war Schauplatz heftiger Kämpfe. Im Jahr 2018 beschwerten sich die Beschäftigten über verschleppte Lohnerhöhungen und Schikanen gegenüber Gewerkschaftern. Mehr als 12.000 unterzeichneten eine Petition, in der die Einhaltung des Tarifvertrags, Lohnerhöhungen, eine gründliche Sicherheitsinspektion aller Gebäude sowie der Rücktritt der für ihren konfrontativen Ansatz bekannten Personalleiterin gefordert wurden. Die Beschäftigten der Eisenbahnabteilung des Werks, die für den Transport von Rohstoffen und Fertigerzeugnissen zuständig ist, traten in einen mit den ukrainischen Eisenbahnern koordinierten „italienischen Streik“. Letztere streikten damals für höhere Löhne, sicherere Bedingungen und die Erneuerung des veralteten Rollmaterials. Da das Stahlwerk Krywyj Rih ohne die Eisenbahnabteilung nicht produzieren kann, legte der Streik das Werk schnell lahm. Die Betriebsleitung drohte den Streikenden mit polizeilichen und gerichtlichen Maßnahmen, da die Gefahr bestand, dass die Gaspipeline durch einen Druckabfall schwer beschädigt würde. Die Beschäftigten gaben jedoch nicht auf und erreichten eine Lohnerhöhung von 25 %. Die verhasste Personalleiterin trat schließlich zurück, aber die Streitigkeiten über die Einhaltung des Tarifvertrags gingen bis 2021 weiter, ebenso wie der Kampf für sicherere Arbeitsbedingungen.

Die Ansiedlung von ArcelorMittal war ein Symbol für den Aufschwung der ukrainischen Wirtschaft nach 2000 gewesen. Pro-westliche Regierungen wollten diese Geschichte nach dem Euromaidan fortsetzen, aber der Krieg hat die Attraktivität der Ukraine in den Augen des globalen Kapitals deutlich verringert. Im Jahr 2015 sank das Verhältnis der Netto-Direktinvestitionen-Zuflüsse zum BIP zum ersten Mal in der Geschichte unter Null. Nach dem Festfrieren des Kriegs belebte sich die Investitionstätigkeit wieder, erreichte aber nicht das Vorkrisenniveau. Es gab nur wenige Neugründungen von Betrieben, die zwischen 2014 und 2019 mehr als 500 neue Arbeitsplätze schufen, meist in der Zulieferindustrie für westliche Endhersteller: Fujikura (Herstellung von Kabelbäumen für Autos), Jabil (Leiterplatten, Set-Top-Boxen), Flex (Leiterplatten, maßgeschneiderte Widgets und Geräte), Head (Sportgeräte), Leoni (Kabelbäume) und Sumitomo Electric (Kabelbäume). Mit Ausnahme von zwei Fällen handelte es sich um Investoren, die bereits zuvor in der Ukraine tätig waren. Auch die Kapitalinvestitionen von mehr als 100 Mio. USD wurden alle von bekannten Unternehmen getätigt: neben ArcelorMittal waren dies Bunge (Getreide, Körner, Öle) und Cargill (Getreide).

So konnte Präsident Selenskyj in seiner Rede Anfang 2020 erklären, dass die Ukraine erst noch „das Investitionsmekka Ost- und Mitteleuropas“ werden müsse. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch bereits klar, dass der Wirtschaftszyklus in seine Abwärtsphase eingetreten war. Mit dem Auftreten der Pandemie fiel die ukrainische Wirtschaft in eine Rezession zurück. Vier Jahre des Wachstums, dessen Geschwindigkeit mit der der Slowakei vergleichbar war, waren zu Ende gegangen. Wie die Weltbank in ihrem Kurzbericht für 2019 feststellte, hätte die Ukraine bei diesem Entwicklungstempo jedoch noch fünfzig Jahre gebraucht, um Polen einzuholen. Durch die Invasion hat sich dieser Rückstand noch vergrößert.

Müdigkeit Gegenüber Dem Nationalismus

Nach 2013 hat die extreme Rechte keinen nennenswerten formalen Einfluss im Parlament oder in der Regierung gewonnen. Der Euromaidan und der Krieg im Donbas haben jedoch das gesamte politische Spektrum nach rechts verschoben, so dass selbst zuvor in dieser Hinsicht nicht auffällige Kandidaten plötzlich zu nationalistischen Falken wurden. Petro Poroschenko, der von 2014 bis 2019 Präsident der Ukraine war, war einst Mitbegründer von Janukowitschs Partei der Regionen, wechselte später in Juschtschenkos Lager, diente dann aber kurzzeitig als Handelsminister in Asarows Regierung (während Janukowitschs Präsidentschaft). Dieser flexible Politiker verwandelte sich 2014 schnell in einen Hardliner. Schon als Präsidentschaftskandidat versprach er, die Operation im Donbas zu beschleunigen und zu verstärken, was seiner Meinung nach „die ukrainische Nation härten“ würde. Im Jahr 2015 unterzeichnete er Gesetze, die die sogenannten kommunistischen Parteien zur Untätigkeit zwangen. Das Gesetz „Über den rechtlichen Status und die Ehrung des Andenkens an die Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert“ gewährte Dutzenden von Organisationen (und ihren Mitgliedern) einen Sonderstatus, darunter die OUN, die UPA und der Antibolschewistische Block der Nationen. Poroschenko setzte sich auch für Änderungen in der Sprach- und Kulturpolitik ein, um „die ukrainische Identität zu stärken“.

Während seiner Präsidentschaft kehrte Poroschenko somit allmählich zum Modell des „starken Präsidenten“ zurück, der ausschließlich von seinen Getreuen umgeben ist. Während seiner Amtszeit warnten Beobachter aus dem In- und Ausland vor einem zunehmenden Autoritarismus, der sich z. B. im Druck auf Journalisten und Korruptionsbekämpfer äußerte. Es entstand eine Atmosphäre der Suche nach einem inneren Feind (d.h. Anhänger des Anti-Maidan, Separatisten, die „fünfte Kolonne“), von der auch Organisationen der Arbeiter*innen betroffen waren. Die protestierenden Bergarbeiter sahen sich beispielsweise wiederholt mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie von Achmetow, der sein Monopol schützen wolle, als Schachfiguren gegen Kiew eingesetzt würde. Auch der Geheimdienst interessierte sich für den Fall, aber der Verdacht bestätigte sich nicht, und dank internationaler Solidarität wurden die Schikanen gegen die Arbeiter eingestellt. Während der Proteste 2020 im Bergbau von Krywyj Rih fuhren SBU-Agenten sogar ein, um die Bergarbeiter zum Verhör vorzuladen. Sie schikanierten auch deren Angehörige und versuchten, die Organisation von Straßenprotesten in anderen Städten zu erschweren, indem sie Druck auf kommerzielle Busbetreiber ausübten. Das Unternehmen versuchte, die Aktion der Arbeiter für illegal zu erklären, und zog den Fall vor Gericht.[72]

Anfangs hatte Poroschenko die Blockade der DVR und der LVR kritisiert, die 2016 von Veteranen- und rechtsextremen Organisationen verhängt worden war. Im Laufe der Zeit machte er sich die Idee zu eigen und bezeichnete später – als er nicht mehr Präsident war – Vorschläge zur Aufhebung der Blockade als Verrat. Während der Amtszeit von Poroschenko verfolgte der ukrainische Staat eine harte Politik gegenüber den besetzten Gebieten und ihrer Bevölkerung. Hunderttausende von Vertriebenen aus den „Republiken“ fanden keine wirksame Unterstützung bei der Suche nach einer neuen Unterkunft und einem neuen Lebensunterhalt. Sie waren auf die Hilfe von Wohltätigkeitsorganisationen wie Vostok SOS („SOS Ost“) angewiesen. Der Oberste Gerichtshof erklärte die Schikanen im Zusammenhang mit der Auszahlung von Renten und Sozialleistungen an Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – in den besetzten Gebieten geblieben waren, für rechtswidrig. Dennoch wurden diese Schikanen fortgesetzt. Gewerkschaftsaktivisten, die sich gegen die Blockade aussprachen und versuchten, Brücken zwischen den Menschen auf beiden Seiten der „Kontaktlinie“ zu bauen, sahen sich mit Drohungen von rechtsextremen Freiwilligen konfrontiert, die sich an das unkritische Vorgehen der Polizei gewöhnt hatten. Im Wahlkampf vor den Präsidentschaftswahlen 2019 wurde Poroschenkos Rhetorik noch schärfer. Sein zentraler Slogan lautete „Armee! Sprache! Glaube!“.

In einer soziologischen Umfrage vor der Wahl wurde die öffentliche Meinung zur Lage im Donbas untersucht. Mehr als die Hälfte der Befragten bezeichnete die Bewohner*innen der DVR und der LVR als „Opfer der Umstände“ oder „Geiseln illegaler bewaffneter Gruppen“. Nur ein Drittel der Befragten befürwortete einen militärischen Weg zum Frieden oder einen Stopp aller Finanzströme, einschließlich der Altersrenten. Eine große Mehrheit bevorzugte dagegen die Strategie des Aufbaus eines „normalen Lebens“ in den unbesetzten Gebieten. Mit anderen Worten: Der überwiegende Teil der Bevölkerung war der Ansicht, dass der Schwerpunkt darauf liegen sollte, eine attraktive Alternative zu den Regimen im Donbas zu schaffen und sie damit zu untergraben.

Diese Antworten gaben einen Vorgeschmack auf die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen 2019, aber auch auf die weitere Entwicklung der öffentlichen Meinung. Poroschenko erhielt im zweiten Wahlgang nur 25 % der Stimmen (etwa 15 % aller Wahlberechtigten) und errang nur im Oblast Lwiw eine Mehrheit. Überall sonst hieß der Sieger Selenskyj – ein Kandidat aus einer jüdischen, russischsprachigen Familie aus Krywyj Rih, der ein Programm zur Beendigung des Krieges durch Verhandlungen vorgelegt hatte. Bei den Parlamentswahlen, die einige Monate später stattfanden, lag die Wahlbeteiligung bei knapp 50 % - die niedrigste Wahlbeteiligung seit der Unabhängigkeit der Ukraine. Mehr als zwei Drittel der Sitze verteilten sich auf Parteien, die dem Aufbau einer ukrainischen nationalen Identität eher lauwarm („Diener des Volkes“, Selenskyjs Partei) oder geradezu feindselig („Oppositionsplattform – Für das Leben“) gegenüberstanden.[73] Die Menschen hatten eindeutig genug von Krieg und Nationalismus. In einer Umfrage im Februar 2020, weniger als ein Jahr nach den Wahlen, befürwortete nur ein Fünftel der Bevölkerung eine militärische Lösung des Donbas-Konflikts, mehr als die Hälfte lehnte sie ab.

Selenskyj und seine Partei gewannen dank moderner politischer Marketingtechniken und einer Anti-Poroschenko-Agenda: für eine vernünftige Lösung des Konflikts im Donbas, gegen „ultra-ukrainische“ Auswüchse in der Kulturpolitik, für die Begrenzung der Macht der Oligarchen, gegen Korruption. Vor der Wahl versprach Selenskyj beispielsweise, dass das beschlagnahmte Vermögen der Oligarchen dazu verwendet werden würde, die Gehälter von Lehrern auf 4.000 Dollar zu erhöhen (d.h. eine mehr als zehnfache Erhöhung). Doch die Seifenblase platzte schnell. Die Enthüllungen der Pandora-Papiere untergruben das Image eines Kämpfers gegen die Eliten, das auch durch die allmähliche Distanzierung von Kolomoisky nicht zu retten war. An der Ostfront gab es keine wesentlichen Fortschritte, und alle Kompromissvorschläge stießen auf den Protest der extremen Rechten. Es wurde ein neuer Entwurf für ein Gesetz zur Regelung des SBU vorgelegt, der die Überwachungsbefugnisse des vom Jugendfreund des Präsidenten geleiteten Geheimdienstes erheblich erweitert hätte. Darüber hinaus zeigten die Erhöhung der Energietarife und die Bodenreform, die einen Markt für landwirtschaftliche Flächen schuf, dass Selenskyjs Zentrismus nicht bedeutete, dass er von unpopulären Reformen abrückte. Letztere haben auch die Form von Versuchen angenommen, die Rechte der Gewerkschaften zu beschneiden, oder die Einführung von Neuerungen wie „Null-Stunden-Verträgen“. Andererseits war auch der IWF mit der Umsetzung des Programms nicht zufrieden. Es herrschte allgemeine Enttäuschung: In der Mitte seiner Amtszeit sank das Rating von Selenskyj. Eine Trendwende trat erst ein, nachdem der Präsident seine erste Videoansprache aus dem belagerten Kiew gehalten hatte.

Im Wirbelwind Der Katastrophen

In diesem Artikel haben wir die Ereignisse der letzten dreißig Jahre verfolgt. Rückblickend – mit allen Vorteilen dieser Perspektive – sind diese Ereignisse eine kontinuierliche Tragödie der ukrainischen Arbeiter*innenklasse. Im Februar 2022 ging sie einfach in den nächsten Akt über.

Während der Streiks an der Wende der 1980er und 1990er Jahre war eine der Forderungen der Bergleute im Donbas die Privatisierung. Sie schien die Unabhängigkeit zu garantieren: Sie wollten nicht, dass ihr Schicksal in den Händen der alten Machthaber in Moskau oder der neuen in Kiew liegt. Auf diese Weise riefen sie symbolisch ein Unglück herbei, das später die gesamte Ukraine heimsuchte. Es brachte den allmählichen Zerfall einer ganzen Lebensweise, die Entvölkerung von Regionen, den Zerfall von Gemeinschaften. Gewalt und Zerstörung drangen in das Leben der Arbeiter*innen ein, sowohl in Form von Kriminalität als auch in Form von steigenden Selbstmordraten und eines Rückgangs der Lebenserwartung. Der Widerstand der Arbeiter*innen konnte nie ganz gebrochen werden, aber die Bedingungen ihres Kampfes wurden immer verzweifelter. Wie Oleg Dubrovsky in Erinnerung ruft, mussten die Arbeiter*innen in einer Situation massenhafter Nichtzahlung der Löhne um das Recht kämpfen, überhaupt Lohnarbeiter zu sein – anstatt Sklav*innen zu sein.

Diese Erfahrung und das Erbe der Desorganisation und Entpolitisierung, das das sowjetische Regime hinterlassen hatte, schufen die Voraussetzungen für die Vorherrschaft lokaler Machthaber, die den Schutz der sektoralen und regionalen Interessen der Arbeitenden in den brutalen Kämpfen des Wettbewerbs versprachen. Gleichzeitig waren die neue Kapitalistenklasse und ihre politischen Vertreter nicht in der Lage (oder willens), die Voraussetzungen für eine kapitalistische Entwicklung zu schaffen, die ein relativ gleichmäßiges Wachstum ermöglichen würde, nicht einmal in dem Maße, wie sie in den meisten anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks üblich wurde. Stattdessen wurde ein Kampf um Positionen entfesselt, die die Voraussetzung für die „politische Akkumulation“ waren. Die Akteure dieses Konflikts instrumentalisierten die nationale Frage, die sofort mit einem sozioökonomischen Inhalt gefüllt wurde. Eine pro-russische Orientierung wurde mit der Nostalgie für die Sowjetzeit, der paternalistischen Fürsorge und der privilegierten Stellung des Bergbaus und der Schwerindustrie verbunden. Auf der anderen Seite war eine pro-europäische Ausrichtung auf den „Anschluss an Europa“ mit Erwartungen an europäische Löhne und Lebensbedingungen verbunden.

Nach der Krise von 2008 verschärften sich die sozialen Widersprüche in der ganzen Welt. Der Aufstieg nationalistischer, rechtsextremer Kräfte beschleunigte sich. Im ukrainischen Kontext spielten bei diesen Prozessen auch die miserablen Ergebnisse der vorangegangenen zwei Jahrzehnte eine Rolle, in denen sich das Land nicht aus der russischen Einflusssphäre lösen konnte. Für einen Teil der Bevölkerung wurde das Verlassen dieser Sphäre zur einzigen Garantie für Fortschritt. Im Jahr 2013 entlud sich die aufgestaute Unzufriedenheit in einer Weise, die das Regime nicht eindämmen konnte. Janukowitschs autoritäre Wende war nicht schnell und entschieden genug, aber die Hunderte von Toten auf dem Unabhängigkeitsplatz reichten aus, um die Proteste unaufhaltsam zu machen.

Eine Spirale wurde in Gang gesetzt, und viele wollten sich ihre Energie zunutze machen. Der Regimewechsel brachte die Vertreter einer Fraktion der Kapitalistenklasse an die Macht, die zuvor an den Rand gedrängt worden war. In den Straßenschlachten mit der Polizei wurde der Einfluss der extremen Rechten gestärkt. Die Kapitalisten im Donbas hofften, dass der Anti-Maidan es ihnen ermöglichen würde, ihre Position unter den neuen Bedingungen zu behaupten und gleichzeitig die Integrität der Ukraine zu bewahren. Ein Teil der Arbeiter*innen im Donbas befürchtete, dass sie nach dem Euromaidan ohne Mitbestimmung oder Vertretung dastehen würden. In diesem Moment griff Russland entschlossen in die Situation ein. Acht Jahre später sind die Einzelheiten der russischen Entscheidungsfindung immer noch geheimnisumwittert. Es scheint, dass zunächst nur die Krim das Ziel war, vor allem wegen ihrer militärischen Bedeutung. Die Unruhen im Osten und Südosten – angeheizt durch Fernsehpropaganda, professionelle Provokateure von jenseits der Grenze und die Überreste loyaler Strukturen der Partei der Regionen – dienten dazu, die Aufmerksamkeit von der Annexion der Krim abzulenken und das neue Kiewer Regime zu schwächen, das nicht in der Lage war, angemessen zu reagieren.

Es ist nicht klar, inwieweit Girkin/Strelkov in dieser Zeit eigenständig handeln konnten. Es ist wohl möglich, dass die Schaffung ständiger „Republiken“ nicht Teil des ursprünglichen Plans Russlands war. Freilich wurde mit zunehmender Dynamik der Ereignisse deutlich, dass die DVR und die LVR in Verbindung mit russischer militärischer Unterstützung nützlich sein könnten, um langfristigen Druck zu erzeugen. Der konventionelle Krieg und der anschließend eingefrorene Konflikt bremsten die wirtschaftliche Entwicklung und die Integration in die westlichen Strukturen. Vor allem der Beitritt der Ukraine zur NATO war angesichts der anhaltenden territorialen Streitigkeiten im Osten undenkbar. Im Minsk-Prozess und bei den Verhandlungen im so genannten Normandie-Format konnte Russland, das sich als bloßer Vermittler aufspielte, aber gleichzeitig der Hauptakteur hinter den beiden Marionettenstaaten war, die Bedingungen für die weitere Koexistenz diktieren. Die Ukraine blieb somit dauerhaft auf halbem Wege außerhalb der russischen Einflusssphäre. Die „Republiken“ spielten ihr gegenüber die gleiche Rolle wie Transnistrien im Falle der Republik Moldau oder Abchasien und Südossetien im Falle Georgiens. Die Rückgabe der besetzten Gebiete an Kiew, falls es jemals dazu kommen sollte, wäre ohne Zugeständnisse nicht möglich gewesen, die die prekäre Lage der Ukraine verfestigt und die Möglichkeit ihrer Rückkehr in die „russische Welt“ offen gelassen hätten. Diese Konstellation änderte sich erst mit den Ereignissen vom Februar 2022, die wiederum auf eine einseitige Initiative Russlands zurückgingen. Bis dahin war Russland eindeutig der Herr der Lage gewesen.

Auch nach der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens im Jahr 2016 hat es in der Ukraine kein Wirtschaftswunder gegeben. Der Lebensstandard ist zweifellos gestiegen, aber es bestehen nach wie vor erhebliche regionale Unterschiede, und im Durchschnitt ist das Land immer noch weit von seinen nächsten westlichen Nachbarn entfernt.[74] Ungeachtet der Slogans hat der Euromaidan die Clanstruktur der Wirtschaft nicht grundlegend verändert. Er hat lediglich das Machtgleichgewicht zwischen den verschiedenen Fraktionen der Kapitalistenklasse verändert. Die durch den Krieg und die von Poroschenko angeführte politische Elite geschürten nationalistischen Gefühle verengten den Raum für eine emanzipatorische Politik und verlagerten den Schwerpunkt von materiellen Problemen auf Fragen der nationalen Identität und die Suche nach inneren Feinden. Allerdings wurden in den von Kiew kontrollierten Gebieten – vor allem nach der heißen Phase des Krieges – die normalen Bedingungen der bürgerlichen Demokratie und Legalität aufrechterhalten. Die Arbeiter*innen konnten dort die Grundfreiheiten der Meinungsäußerung, der Versammlung usw. genießen. Dies ist in der DVR und der LVR nicht der Fall, wo die Willkürherrschaft von Banden herrscht, die dem russischen Staat vollständig untergeordnet sind. Man kann sie kaum als etwas anderes als eine Kolonialverwaltung bezeichnen.

Eine der großen Schlagerslogans des Anti-Maidan war die Rettung der Bergbauindustrie in den Gebieten Donezk und Luhansk vor der Gleichgültigkeit der Kiewer Regierung und den Drohungen des EU-Diktats. Die Propagandisten bemühten sich, den Eindruck zu erwecken, dass die Bergleute spontan zu den Waffen griffen, um ihren Lebensunterhalt zu verteidigen. Acht Jahre später ist klar, dass dies nicht der Fall war. Ein großer Teil der Minen wurde aufgegeben oder zerstört. Weder die Wette auf die Privatisierung Anfang der 1990er Jahre noch die Hoffnung auf eine Art Rückkehr zu früheren Zeiten unter dem Banner des orthodox-christlichen Stalinismus haben den Arbeitenden im Donbas etwas Gutes gebracht.

Die wirtschaftlichen Umwälzungen im gesamten ehemaligen Ostblock bedeuteten den Niedergang großer Teile der „alten“ Industrie, die Schließung von Fabriken, die Verrottung von Maschinensystemen, den Zusammenbruch von Bergwerken. Aber auch die Vereinigten Staaten haben ihren Rust Belt. Die Prozesse der Deindustrialisierung dauerten unterschiedlich lange, waren aber überall von Elend, massenhaftem Leiden großer Teile der Arbeiter*innenklasse und der Explosion von Pathologien begleitet, die von häuslicher Gewalt bis zur Drogensucht reichen. In der Ukraine nach 2014 erreichte der endlose Prozess des wirtschaftlichen Übergangs jedoch seine brutalste Phase: die Zerstörung des alten Anlagekapitals, das unter den neuen Bedingungen unrentabel ist, durch Artilleriegranaten und ballistische Raketen.

Notes

[1] Unsere Übersetzung basiert auf dem ukrainischen Original, das online verfügbar ist. Das Manuskript wurde 1968 auf Englisch veröffentlicht, unter anderem dank des slowakischen Wissenschaftlers und Ukraineforschers Juraj Bača (1932-2021), der half, es in den Westen zu bringen. Bača wurde dafür später in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik zu vier Jahren Haft verurteilt. Eine neuere englische Ausgabe ist ebenfalls online verfügbar.

[2] Eine weitere Option ist die Integration der Ukraine oder ihres besetzten Teils als quasi unabhängiges Mitglied des so genannten Unionsstaates, einer supranationalen Einheit, die derzeit die Russische Föderation und Weißrussland vereint.

[3] Das waren etwa 76 % aller Wahlberechtigten. Auf der Krim war die Unterstützung für die Unabhängigkeit mit rund 54 % der Stimmen am geringsten. Ähnlich sieht es in Sewastopol auf der Krim aus, das ein eigener Wahlkreis war: 57 %. In den Gebieten Donezk und Luhansk sprachen sich dagegen fast 84 % der Abstimmenden für die Unabhängigkeit aus. Wikipedia fasst die Ergebnisse im Detail zusammen.

[4] Noch 2013 machten die Einfuhren aus Russland 29 % der gesamten Importe aus; die Ausfuhren nach Russland machten fast 23 % der ukrainischen Exporte aus. Bis 2020 waren beide Indikatoren auf 11 % bzw. 6 % gesunken (siehe oec.world). Andererseits war der Anteil der Exporte in die EU15 bereits 2002 größer als der Anteil der Exporte nach Russland. Die Abhängigkeit der ukrainischen Industrie von russischem Gas und Öl hat also eine entscheidende Rolle gespielt.

[5] Eine Besonderheit des ukrainischen (wie auch des russischen) Übergangs war, dass die offizielle Arbeitslosigkeit nie ein Niveau von annähernd zwanzig Prozent erreichte, wie in Polen (2002) oder der Slowakei (2001). Die Arbeiter*innen in Unternehmen, die in Schwierigkeiten gerieten, blieben zwar formell beschäftigt, wurden aber nicht bezahlt – obwohl sie in vielen Fällen weiterarbeiteten. Manchmal erhielten sie Sachleistungen anstelle von Bargeld.

[6] Natürlich erinnert sie in vielerlei Hinsicht auch an die Geschichte anderer ehemaliger Ostblockländer, einschließlich der Slowakei.

[7] Die Geschichte und Struktur der „Clans“ wird in „The Oligarchic Democracy“ von Sławomir Matuszak beschrieben. Siehe auch „The Consolidation of Ukrainian Business Clans“ von Wjatscheslaw Awjutsky.

[8] Ein merkwürdiges Phänomen des politischen Lebens in der Ukraine war das Auftauchen einer Reihe falscher linker Gruppen, die alle um das Jahr 2000 gegründet wurden. Diese Pseudo-Organisationen knüpften Kontakte zu ausländischen „Internationalen“, hauptsächlich der trotzkistischen Sorte, und lockten sie mit materieller Hilfe oder Geld. Es genügte zu schreiben, dass sie sich mit ihrem politischen Programm identifizierten und eine ukrainische oder russische Sektion werden wollten. Trotz persönlicher Treffen dauerte es drei oder vier Jahre, bis die ausländischen Geldgeber – erfreut über das unerwartete Wachstum der Arbeiter*innenbewegung im ehemaligen Ostblock – entdeckten, dass ihre „Partner“ in Wirklichkeit politische Gauner waren. Der Skandal hatte den internationalen Ruf der ukrainischen Linken schwer beschädigt, auch wenn man sich über die Leichtgläubigkeit der westlichen Linken wundern kann.

[9] Zu früheren Streiks der Bergarbeiter im Donbas für bessere Arbeits- und Lebensbedingunen sowie Demokratisierung siehe den Dokumentarfilm Perestroika from Below (1989). Spätere Streiks hatten explizit politische Forderungen, darunter die nationale Unabhängigkeit. Siehe die Interviews mit Streikführern in Donezk sowie eine kurze Dokumentation (mit englischen Untertiteln). Die Geschichte der Bergarbeiterproteste von der Perestroika bis zum Jahr 2000 ist in einem Aufsatz von Vlad Mychnenko mit dem Untertitel „Ukrainische Bergarbeiter und ihre Niederlage“ zusammengefasst. Siehe auch die Erinnerungen des militanten Arbeiters von Dnipro, Oleg Dubrowskij, in einem Interview aus dem Jahr 1996 (auf Englisch), sowie seine Analyse des Privatisierungsprozesses der Bergbauindustrie (auf Russisch).

[10] Eine der Folgen des Zusammenbruchs der Bergbauindustrie im Donbas ist die Zunahme des illegalen Bergbaus in den sogenannten Kopanki. Ein Teil des Dokumentarfilms Workingman’s Death aus dem Jahr 2005 befasst sich mit diesem Phänomen. Die postapokalyptische Landschaft des Oblast Donezk wird in dem kurzen Dokumentarfilm Life After the Mine (2013) gezeigt.

[11] Das deutsche Unternehmen besitzt außerdem vier kleinere Werke in der Slowakei.

[12] Einzelheiten zu ausländischen Direktinvestitionen (ADI) in der Ukraine finden sich in der Analyse des Kiewer Instituts für Wirtschaftsforschung und Politikberatung. Unternehmen, die Ziel ausländischer Direktinvestitionen waren, sind wesentlich produktiver und zahlen höhere Löhne als Unternehmen mit inländischem Kapital. Andererseits sind die Sektoren der ukrainischen Wirtschaft, die den größten Anteil an Investitionen erhalten haben, der Handel und das Finanzwesen. Die Analyse der Auswirkungen auf das Land wird dadurch erschwert, dass der überwiegende Teil der Investitionen von Briefkastenfirmen in Steuerparadiesen, insbesondere Zypern, stammt. Ein erheblicher Teil dieser Investitionen könnte in Wirklichkeit ukrainisch (z.B., um eine günstigere steuerliche Behandlung zu erhalten) oder russisch sein. Schätzungen zufolge ist (oder war) das reale Volumen russischer Investitionen insofern bis zu viermal größer als offiziell angegeben.

[13] Dies war Teil einer komplexeren Geschichte von Handelskonflikten, auf die wir hier nicht eingehen werden. Im Jahr 2010 handelte die Ukraine zwar einen etwas günstigeren Gaspreis aus (als Gegenleistung für die Verlängerung des Pachtvertrags für den Schwarzmeer-Militärstützpunkt in Sewastopol bis 2042), aber der neue Preis war immer noch höher als vor der Krise 2008.

[14] Der Vergleich mit 1991 ist noch schockierender: Fast dreißig Jahre später liegt das reale BIP der Ukraine bei siebzig Prozent des Ausgangsniveaus. Angesichts der Rolle, die die informelle Wirtschaft in der Ukraine spielt, können die BIP-Zahlen natürlich verzerrt sein. Schätzungen zum Umfang der informellen Wirtschaft in den 1990er Jahren finden sich in Ulrich Thiessens Arbeit. Dennoch ist der Kontrast zu den Nachbarländern sowie zu vielen Ländern der ehemaligen Sowjetunion erschreckend. Siehe auch den Rückgang des Anteils der Wertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe am BIP nach 2008.

[15] Für die Daten siehe OICA. Zum Vergleich: Die Slowakei produzierte 2008 etwa 575.000 Autos und 2019 fast doppelt so viele. Der Niedergang der ukrainischen Automobilindustrie ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen: Verlust der Märkte im Osten, Senkung der Zölle auf Autoimporte im Einklang mit den WTO-Regeln sowie Mangel an Investitionen und die Unfähigkeit, mit ausländischen Herstellern zu konkurrieren.

[16] Noch im Jahr 2020 waren 1.600 von ihnen in Betrieb und erwirtschafteten 10 % der ukrainischen Wirtschaft.

[17] Auch in dem später (nach dem Euromaidan; siehe unten) unterzeichneten Abkommen wird die EU-Mitgliedschaft nicht erwähnt. Der Kandidatenstatus wurde ihr erst im Juni 2022, mitten im Krieg, zuerkannt.

[18] Natürlich geht sie viel tiefer, als wir hier andeuten. Wir können uns hier jedoch nicht mit den Saporoger Kosaken, Taras Schewtschenko oder dem Erlass von Zar Alexander II. befassen, der den Gebrauch der ukrainischen Sprache in Schrift und Bildung faktisch verbot. Im Folgenden werden wir uns nur mit der Zeit seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 befassen. Einige Anmerkungen zur längeren Geschichte: Nach der Oktoberrevolution erlebte die Ukraine – abgesehen von einem blutigen und komplizierten Bürgerkrieg – eine kurze Periode intensiver Entwicklung der lokalen Kultur und Sprache sowie eine schnelle Modernisierung. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt in den Jahren 1927 bis 1929. Die Wende zur Russifizierung kam mit der Zwangskollektivierung (und der dadurch verursachten Hungersnot) sowie mit der endgültigen Ausschaltung der unabhängigen Linken und jeglicher Opposition zum Stalinismus. Stalins Terror diskreditierte den Marxismus in der Sowjetukraine und untergrub die Popularität der Kommunistischen Partei der Westukraine, die auf dem damaligen polnischen Territorium tätig war. Dies stärkte die Position der rechtsgerichteten Nationalisten, die später den bewaffneten Widerstand gegen das Sowjetregime anführten und mit Hitlerdeutschland kollaborierten. Dies bildete die Grundlage für weitere Unterdrückung und Russifizierung. Diese setzte sich in schwächeren und stärkeren Wellen bis zum Zusammenbruch der UdSSR fort. Unter dem Vorwand, den „ukrainischen bürgerlichen Nationalismus“ zu unterdrücken, wurden Menschen ukrainischer (oder anderer nicht-russischer) Nationalität vertrieben, ethnische Russen oder andere russischsprachige Bevölkerungsgruppen angesiedelt sowie Unterricht und Veröffentlichungen in ukrainischer Sprache unterdrückt. Siehe dazu das Buch von Serhiy Plochy, Lost Kingdom: A History of Russian Nationalism from Ivan the Great to Vladimir Putin. In mancher Hinsicht ähnelte die Stellung der Ukraine (wie auch anderer nicht-russischer Republiken) in der Sowjetunion der von Kolonien in westlichen Imperien oder „inneren Kolonien“ im zaristischen Russland. Andererseits war die Sowjetepoche auch durch eine intensive industrielle Entwicklung gekennzeichnet.

[19] Siehe dazu Stephen Crowley, „Between Class and Nation: Worker Politics in New Ukraine“ (1995).

[20] Dies war nicht die einzige mögliche historische Quelle für ukrainische Identität und nationalistische Politik. Schon die Anfänge des ukrainischen Nationalismus im 19. Jahrhundert waren links (Iwan FrankoMychajlo DrahomanowLessja Ukrajinka). Der erste ukrainische Staat, der den Großgrundbesitz abschaffte, wurde von Sozialdemokrat*Innen und SR*Innen gegründet. Der Aufstieg der künstlerischen Avantgarde in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre war zum Teil ein Produkt des ukrainischen Bolschewismus. Schließlich hatte auch die ukrainische antistalinistische Emigration ihren linken Flügel, dessen Organ die Zeitschrift Wperjod war. Der politische Inhalt dieser Traditionen wurde jedoch durch den Stalinismus zu sehr diskreditiert.

[21] Jurij Schuchewytsch, der Sohn eines der UPA-Kommandeure, wurde 1990 zum Vorsitzenden der rechtsextremen Ukrainischen Nationalversammlung (später bekannt als UNA-UNSO) gewählt. Eine der Gründerinnen des Kongresses der ukrainischen Nationalisten (1993) war Jaroslava Stecko, ein ehemaliges Mitglied des radikalen Flügels der OUN. Nach dem Krieg war sie im Antibolschewistischen Block der Nationen aktiv, der u. a. die slowakische Ľudáken, die kroatische Ustaše und die ukrainische Bandera-Emigration vereinte. Unter den Slowaken war zum Beispiel Ferdinand Ďurčanský an dieser Gruppierung beteiligt.

[22] Eine ähnliche Organisation namens Donezker Republik ist seit 2005 im Donbas tätig.

[23] Auch die Aufteilung der politischen Szene in einen „pro-russischen“ und einen „pro-westlichen“ Teil kann nicht einfach mit der Einteilung in ein Links-Rechts-Spektrum gleichgesetzt werden. Wir haben bereits erwähnt, dass beide Lager das Diktat des IWF willkürlich akzeptierten und versuchten, sich durch Verhandlungen zu manövrieren. Es war auch die von Janukowitsch eingesetzte Regierung, die die unpopuläre Rentenreform verabschiedete oder die Leistungen für Tschernobyl-Veteranen kürzte. Unter ihrem Bildungsminister Tabachnyk, der für seine „anti-ukrainischen“ Äußerungen bekannt ist, gab es Proteste linker Studentenorganisationen gegen die Kommerzialisierung der Universitäten.

[24] Die jüngsten Daten stammen aus der Volkszählung von 2001. Demnach machten Russen etwa 17 % der ukrainischen Bevölkerung aus, aber 39 % bzw. 38 % in den Gebieten Donezk und Luhansk (Krim: 58 %). Ein Großteil der russischen Siedlungen im Donbas ist jedoch relativ neu und stammt aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Es sollte hinzugefügt werden, dass die Daten zur Nationalität nicht mit den Daten zur Erstsprache verwechselt werden sollten. Nach der Volkszählung von 2001 betrug der Anteil der Bevölkerung, deren erste Sprache Russisch war, etwa 30 %; im Oblast Donezk waren es 75 %. Ein erheblicher Teil dieser Bevölkerung gab die ukrainische Staatsangehörigkeit an.

[25] Im Jahr 2001 betrug der durchschnittliche Monatslohn in der Ukraine beispielsweise 311 UAH, im Oblast Donezk 383 UAH und im Oblast Transkarpatien (im Westen) nur 238 UAH. Diese Unterschiede blieben mehr oder weniger bis zum Beginn des Krieges im Jahr 2014 bestehen.

[26] Siehe zum Beispiel den Fall des Bürgermeisters von Odessa, Truchanow, der für seine „pro-russische“ Haltung bekannt war, sich aber nach der Invasion im Februar 2022 auf die Seite der Ukraine stellte.

[27] Die Streitigkeiten über die ukrainische Sprachpolitik eskalierten 2010. Ein von Janukowitschs Partei der Regionen initiiertes Gesetz (2010, 2012) war ein Versuch, Ukrainisch als Amtssprache aus Regionen mit mindestens 10 % russischsprachigen Einwohner*innen zu verdrängen. Das jüngste Gesetz stammt aus der Amtszeit von Präsident Poroschenko (2019) und folgt einem ähnlichen Muster in Bezug auf das Russische (aber nicht auf andere Minderheitensprachen). Es schreibt zum Beispiel vor, dass russischsprachige Publikationen gleichzeitig auf Ukrainisch veröffentlicht werden müssen. Beide Gesetze sind von der Venedig-Kommission des Europarats kritisiert worden. Die Behauptungen der russischen Propaganda, dass der Gebrauch der russischen Sprache in der Öffentlichkeit nun verfolgt wird, entbehren jedoch jeder Grundlage. Langfristigen Erhebungen zufolge sieht nur ein winziger Teil der Bevölkerung den Status der russischen Sprache als ein wichtiges Thema an.

[28] Das Etikett „ausländische Agenten“, das seit 2012 zur Verfolgung von NGOs verwendet wird, wurde auch auf die unabhängige Gewerkschaft MPRA im Volkswagenwerk Kaluga angewendet. In diesem Fall sind die mysteriösen ausländischen Geldgeber die deutschen linken Stiftungen (Friedrich-Ebert-Stiftung, Rosa-Luxemburg-Stiftung) und der Gewerkschaftsverband IndustriALL.

[29] Der Dokumentarfilm Voices of Protest bietet eine linke und gewerkschaftliche Perspektive auf den Euromaidan und die Ereignisse danach.

[30] Einen Überblick über die Situation der Clans nach der Wahl der Poroschenko-Regierung gibt die BBC-Landkarte der Oligarchen von 2015.

[31] Serhij Sternenko, ein bekannter Blogger und Aktivist des Rechten Sektors in Odessa, wurde im Jahr 2021 wegen illegalen Waffenbesitzes, Raubes und Freiheitsberaubung verurteilt. Dabei ging es um den Angriff Sternenkos auf einen örtlichen Abgeordneten der prorussischen Partei Rodina („Vaterland“) im Jahr 2015. Nicht nur Anhänger der rechtsextremen Partei, sondern auch die breite Zivilgesellschaft ging zur Verteidigung des verurteilten rechtsextremen Aktivisten auf die Straße.

[32] Es sagt viel über den Charakter dieser Partei aus, dass eine ihrer weiblichen Abgeordneten von 2012 bis 2014 die reichste Frau im Parlament war.

[33] Ähnliche Motive steckten hinter der separatistischen Mobilisierung in Katalonien im Jahr 2017. Was den Donbass anbelangt, so hat er in der Tat mehr aus dem Staatshaushalt in Form von Subventionen und anderen Formen der Finanzierung erhalten, als er abgegeben hat.

[34] In einigen Regionen im Westen der Ukraine war im gleichen Zeitraum eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten – Transkarpatien lag 1995 mit 68 % des Durchschnittslohns am Ende der Rangliste, hatte aber bis 2013 den Abstand auf 78 % verringert. Diese Veränderungen stehen im Zusammenhang mit den neuen Bedingungen nach dem Zusammenbruch der UdSSR. Zu Sowjetzeiten war der Ferne Westen eine ländliche Peripherie, die an den Rand gedrängt wurde, während der Donbas ein wichtiges Industriezentrum war. Nach der Entstehung der unabhängigen Ukraine hingegen profitierten die westlichen Regionen von ihrer Nähe zu den europäischen Märkten, da sich dort zum Beispiel Fabriken von Automobilzulieferern ansiedelten. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass angesichts des Phänomens der massenhaften Nichtzahlung von Löhnen die Lohndaten mit Vorsicht zu genießen sind.

[35] Eine der Aktivitäten dieser Gruppen bestand darin, die allgegenwärtigen Lenin-Denkmäler zu bewachen, die nach dem Sturz von Janukowitsch zum Ziel von Anschlägen wurden.

[36] Er war ein Vertreter der Partei der Russischen Einheit, die bei den Wahlen 2012 keinen einzigen Sitz gewonnen hatte.

[37] Für eine detaillierte Fallstudie dieses Prozesses am Beispiel von Charkiw und Donezk siehe Darja Platonowas The Donbas Conflict in Ukraine: Elites, Protest, and Partition (2021).

[38] Zur sogenannten Tragödie in Odessa am 2. Mai 2014, die in Wirklichkeit ein Konflikt zwischen zwei Lagern bewaffneter Demonstranten war, siehe den Dokumentarfilm Odessa Without Myths.

[39] Dazu gehörte anfangs wahrscheinlich auch Rinat Achmetow, der sich möglicherweise für den Fall der Fälle absichern wollte. Später sprach er sich offen gegen den Separatismus aus.

[40] Kurz vor der Invasion 2022 wurden diese Einheiten in die Territorialverteidigung der Ukraine umgewandelt.

[41] Bis Oktober 2014 wurden insgesamt 44 territoriale Verteidigungsbataillone, 32 der Polizei unterstellte Bataillone, drei freiwillige Bataillone der Nationalgarde und mindestens drei Bataillone außerhalb der staatlichen Strukturen aufgestellt. Einer Schätzung zufolge könnten es insgesamt 15.000 Personen gewesen sein, die meisten von ihnen Männer. Hinsichtlich der nationalen und sprachlichen Grenzen ist zu beachten, dass die rechtsextremen Bataillone nicht im „nationalistischeren“ Westen der Ukraine stationiert waren. Das Asow-Bataillon bestand aus Fans des Fußballclubs Metalist, die im überwiegend russischsprachigen Charkiw beheimatet waren, der Heimatstadt des Bataillonsgründers Andrij Bilezkyj. Der Anführer des Rechten Sektors in den Jahren 2013-2015, Dmytro Jarosch, wuchs in einer russischsprachigen Familie in Dniprodserschynsk auf.

[42] Die überwiegende Mehrheit der ums Leben gekommenen waren Soldat*Innen und andere Kämpfer*Innen (etwa 4.500 auf ukrainischer Seite und etwa 7.000 auf der Seite der „Republiken“ und Russlands). Die meisten zivilen Todesopfer gab es in den ersten beiden Jahren des Konflikts (insgesamt etwa 3.000). Im Jahr 2021 starben auf dem Territorium der DVR und der LVR insgesamt acht Zivilisten an den Folgen der Kämpfe - nach den von den „Republiken“ selbst veröffentlichten Daten. So viel zu „acht Jahren Völkermord im Donbas“.

[43] Der Grad der Verantwortung der einzelnen Parteien lässt sich nur schwer genau einschätzen. Was den ukrainischen Staat betrifft, so verweisen Berichte von Amnesty International und Human Rights Watch auf den Einsatz von Streumunition, die unrechtmäßige Inhaftierung von Journalisten und mehrere Fälle von Entführungen oder Hinrichtungen durch Freiwilligenbataillone. Letztere waren auch an der Blockade der humanitären Hilfe für die Gebiete unter der Kontrolle der „Republiken“ beteiligt. In einem viel beachteten Fall wurde die Tornado-Kompanie als kriminelle Vereinigung aufgelöst und ihre Mitglieder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Liste der von pro-russischen oder russischen Kräften begangenen Straftaten ist dagegen wesentlich länger; es sind keine Prozesse dieser Art bekannt.

[44] Die Unterzeichner waren Vertreter der Ukraine, der Russischen Föderation und der beiden „Republiken“ sowie ein Vertreter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

[45] 2019 wurde die Bewegung des Widerstands gegen die Kapitulation gegründet, an der eine Reihe nationalistischer Parteien und Organisationen beteiligt sind. Die Bewegung war eine Reaktion auf den neuen Kurs von Präsident Selenskyj, den die rechten Kräfte für zu kompromissbereit hielten.

[46] Die bisher wohl ausführlichste Studie über den Aufstieg der „Asow-Bewegung“ ist From the Fires of War des Bellingcat-Journalisten und -Forschers Michael Colborne. Sie wurde erst im März 2022 veröffentlicht.

[47] Swoboda gründete sogar eine eigene Gewerkschaft, die „Freiheit der Arbeit“, die aber nicht sehr aktiv ist.

[48] Man denke im Falle der Slowakei nur an die Jungen, die in „Widerstand Kysuce“ und den „Slowakischen Rekruten“ Krieg spielen, an die Versuche, die „Volksjugend“ zu vereinen oder eine nationalistische kommunitäre Familienorganisation („Kopf hoch“) zu gründen usw.

[49] Die wichtigste ideologische Quelle ist der OUN-Theoretiker Mykola Sziborskyj, der das Konzept der „Natiokratie“ (1935) entwickelte. In diesem autoritären Staatssystem würde die „Nation“ selbst durch „Staatssyndikate“ regieren, eine Art Analogie zu den italienischen faschistischen Konzernen. Die Asow-Bewegung bekennt sich offen zu diesem Erbe, betrachtet es als eine „Kritik des Faschismus von rechts“ und nennt ihre aktualisierte Version „Natiokratie 2.0“. In diesem System würden den Bürger*Innen die Bürgerrechte auf individueller Basis, in unterschiedlichem Maße und auf der Grundlage von Verdiensten gewährt werden. Stsiborskijs Ansichten sind auch bei anderen Teilen des ukrainischen rechtsextremen Spektrums beliebt; sein bahnbrechendes Werk wurde nicht nur von Orientir (Nationales Korps), sondern auch von Kryla (Rechter Sektor) neu aufgelegt. Andere Varianten des Faschismus, die sich vom Nazismus unterscheiden, sind ebenfalls eine wichtige Inspiration (Ernst Jünger, Julius Evola). Siehe z. B. die Liste der Bücher, die das Zivilkorps „Asow“ 2016 für die Frontsoldat*Innen des Regiments zusammengestellt hat.

[50] Einst gab es einen ideologischen Konflikt zwischen der „Volkspartei – Unsere Slowakei“ und der „Slowakischen Gemeinschaft“, da letztere mit Asow sympathisierte. Im Jahr 2016 strahlte das Internetradio von Asow ein Interview mit Patrik Kubička aus, einem „rechten Aktivisten aus der Slowakei“ von der pseudointellektuellen Zeitschrift Reconquista.

[51] Im Fall von Asow war der ehemalige Innenminister Arsen Awakow besonders wichtig. Bereits als Gouverneur der Oblast Charkiw (2005-2010) unterhielt er Kontakte zum Patriot der Ukraine. Später, als Minister, ernannte er einen der Offiziere des Asow-Regiments zum Chef der Kiewer Polizei, der dann Vizepräsident der nationalen Polizei wurde. Kurz nach dem Rücktritt Avakovs (zum Teil auf Druck von Anti-Korruptions-NGOs) verlor der betreffende Offizier jedoch alle seine Posten. Diese Geschichte veranschaulicht die Beziehung zwischen Asow und dem ukrainischen Staat: Persönliche Verbindungen ermöglichen die Infiltration, aber keine dauerhafte Kontrolle, zumindest vorerst.

[52] Siehe z. B. die Berichte ausländischer Beobachter*Innen über Hassverbrechen im Jahr 2020. Die extreme Rechte hat gezielt öffentliche Veranstaltungen von Feminist*Innen und der LGBTI-Gemeinschaft angegriffen. Seit dem Beginn der Invasion im Jahr 2022 kam es auch zu Angriffen auf feministische Aktivist*Innen. Einzelheiten zu den Aktivitäten verschiedener rechtsextremer Organisationen finden Sie in einem Artikel von Denys Gorbatschow aus dem Jahr 2018. Zum Vergleich siehe den Bericht der Antidiskriminierungsstelle Memorial von 2015 über den Status der Roma in den Gebieten der selbsternannten Republiken.

[53] Genauere Daten scheinen nicht zu existieren, aber 2013 hatten die Gebiete Donezk und Luhansk zusammen eine Bevölkerung von etwa 6,6 Millionen. Einer Studie aus dem Jahr 2019 zufolge lebten 3,2 Millionen Menschen in den Gebieten der „Republiken“. Vor allem die jüngeren Generationen haben die Gebiete verlassen.

[54] Das einzige größere Projekt war eine Investition von 500 Mio. Rubel (ca. 7 Mio. EUR) in die DonFrost-Fabrik, die Kühlschränke in Donezk herstellt.

[55] Zu den ökologischen Folgen des Niedergangs der Bergbauindustrie im Donbass siehe diesen Artikel von 2019. Die gefährlichen Arbeitsbedingungen in den ukrainischen Bergwerken sind seit Sowjetzeiten berüchtigt. Das Bergwerk A. F. Zasjadko im Oblast Donezk ist vielleicht das schlimmste von allen - bei einem Grubenunglück im Jahr 2007 kamen hier über hundert Bergleute ums Leben. Während des Krieges geriet das Bergwerk unter die Kontrolle der DVR. Im Jahr 2015 kamen bei einer Gasexplosion 33 Menschen ums Leben.

[56] Im Februar 2022 schrieb der russische Kommersant über ein Durchschnittsgehalt von 15.000 Rubel in der DVR und 18.000 Rubel in der LVR. Wir sind auf keine Aussage gestoßen, die diese Zahl bestätigt. Dennoch würde dies nur etwa 60 % des derzeitigen Durchschnittslohns in der Ukraine ausmachen.

[57] Siehe z. B. ein Interview mit einem Angehörigen der LVR-Streitkräfte in ukrainischer Gefangenschaft. Bis zum Beginn des Krieges im Donbass hatte er als Bergarbeiter gearbeitet und dank des damals viel günstigeren Griwna-Wechselkurses etwa 1200 Dollar im Monat verdient. Nach der Gründung der „Republik“ und der Schließung des Bergwerks meldete er sich als Soldat und verdiente 200 bis 300 Dollar im Monat (mit kostenlosem Essen). Mehrere andere Interviews mit Kriegsgefangenen aus der LVR enthalten interessante Details über das tägliche Leben in der „Republik“.

[58] Advego, eine Jobbörse für Freiberufler, ist bei den Arbeiter*innen in Donezk sehr beliebt. Es gab auch einige Experimente mit Kryptowährungen (und den damit verbundenen betrügerischen Machenschaften). Diese Vorliebe für „Finanzinnovationen“ ist nicht überraschend, da die Verwaltung der DVR von Denis Puschilin geleitet wird, der einst an dem immens populären „MMM“Ponzi-System beteiligt war.

[59] Zu weiteren Streiks und Manifestationen der Unzufriedenheit der Arbeiter*innen in der DVR und LVR im Jahr 2020 siehe z. B. diesen Bericht von Novosti Donbassa oder diesen Artikel mit einer detaillierten Chronologie des Streiks im Hüttenwerk Alchevsk (LVR).

[60] Zu ihnen gehörte Aleksej Mosgowoj, Kommandeur der Prizrak-Brigade und nach eigenen Worten ein „Monarchist“. Die Brigade wurde aus den Selbstverteidigungseinheiten des Anti-Maidan im Oblast Luhansk gebildet. Die populistische Rhetorik von Mozgovoy zog eine Reihe ausländischer „Interbrigadisten“ an und täuschte auch einige slowakische Linke. Seine Einheit widersetzte sich zunächst der Integration in die offiziellen Strukturen der LVR, doch nach seiner Ermordung wurde der Widerstand schnell überwunden. Eine ausführlichere Darstellung der Prizrak-Brigade findet sich in der Studie von Volodymyr Ischtschenko (S. 79 ff.).

[61] Siehe zum Beispiel die Ansichten der Befragten in dem Video des russischen Vloggers Varlamov, das mit englischen Untertiteln verfügbar ist.

[62] Das Reisen aus den „Republiken“ war kompliziert, aber nicht unmöglich. Personen mit Pässen, die Auslandsreisen ermöglichen (im Gegensatz zu „Inlandspässen“, d. h. nationalen Personalausweisen), konnten über Russland nach Europa gelangen. Der Grenzübertritt von und nach ukrainischem Gebiet war von Anfang an schwierig. Man musste in Warteschlangen warten und langwierige Sicherheitskontrollen durchlaufen. Rentner mussten diese Strapazen regelmäßig auf sich nehmen, um ihre Rente zu erhalten, da die ukrainische Seite sie nur persönlich auszahlte. Studenten aus der DVR und der LVR konnten jedoch ukrainische Universitäten besuchen. Im Jahr 2020 wurde der Reiseverkehr in die Ukraine unter dem Vorwand der Pandemie eingeschränkt, die Kontrollpunkte nach Russland blieben jedoch geöffnet.

[63] Auch die PrivatBank, die Ihor Kolomojskyj und Gennadij Bogoljubov gehörte, geriet in ernste Schwierigkeiten. Als eine der ersten Geschäftsbanken, die nach der Unabhängigkeit der Ukraine gegründet wurden, kontrollierte sie den größten Anteil des inländischen Marktes. Sie nutzte die Einlagen der Verbraucher, um in großem Umfang Kredite an die Unternehmen ihrer Aktionäre zu vergeben. In der Krise 2014-2015 war sie unterkapitalisiert und musste 2016 verstaatlicht werden. Die Ermittlungen zu den fragwürdigen Praktiken der Bank sind noch nicht abgeschlossen. Die ukrainische Niederlassung des globalen Wirtschaftsprüfungsgiganten PwC, die die Jahresabschlüsse der Bank geprüft hatte, verlor später ihre Lizenz zur Durchführung von Bankprüfungen.

[64] Die Änderungen hängen auch damit zusammen, dass in den ukrainischen Statistiken ab 2015 die besetzten Gebiete der Oblast Donezk und Oblast Luhansk nicht mehr berücksichtigt werden.

[65] Während die Ukraine 2013 etwa 1,6 % des BIP für Waffen ausgab, stieg der Anteil 2015 auf mehr als 3,2 %.

[66] Diese Option ist im Westen der Ukraine am beliebtesten (fast 15 %) und im Osten am wenigsten beliebt (4,3 %); im Donbass sind es 7 %. In ähnlicher Weise sind nur 8,5 % der Ukrainer der Meinung, dass die Rolle des Staates in der Wirtschaft reduziert werden sollte.

[67] Im Jahr 2020 konnte jedoch mit Hilfe einer Demonstration die geplante Privatisierung des Artemsil-Werks in Soledar (Oblast Donezk), einer der größten Salinen in Europa, verhindert werden. Nach der Invasion im Jahr 2022 musste es die Produktion einstellen.

[68] Eine ausführliche Darstellung der Situation der Bergleute finden Sie in der englischen Übersetzung des Artikels von Vitalij Atanasov aus dem Jahr 2016.

[69] Für diese Taktik gibt es in der Ukraine eine besondere Begründung. Verkehrsstreiks, die den Personenverkehr beeinträchtigen oder Unternehmen bedrohen könnten, die rund um die Uhr arbeiten, sind verboten durch Artikel 18 des Transportgesetzes. Zu dem fraglichen Streik hatte die kleinere und militantere Freie Gewerkschaft der Eisenbahner (VZPU) aufgerufen, während die große Gewerkschaft der Eisenbahner und Verkehrsbauarbeiter sich von der Aktion distanzierte.

[70] Einen ausführlichen Bericht über die Situation in ukrainischen Krankenhäusern aus der Sicht der Krankenschwester Nina Kozlovskaya finden Sie im Artikel von 2020.

[71] Siehe auch den Artikel über die Kämpfe der Glovo-Kuriere.

[72] Nach einem Einspruch haben die Bergleute gewonnen - vorerst.

[73] Swoboda kandidierte als Teil einer breiten Koalition mit dem Nationalen Korps, dem Rechten Sektor und anderen, kleineren rechtsextremen Parteien. Sie erhielten lediglich 2,15 % der Stimmen, was einem Sitz entsprach.

[74] Im Jahr 2019 gab der durchschnittliche ukrainische Haushalt fast die Hälfte seines Einkommens für Lebensmittel und alkoholfreie Getränke aus. Für Freizeit und Kultur oder für Hotels und Restaurants wurden weniger als 2 % ausgegeben. Im Gegensatz dazu liegen die entsprechenden Zahlen für die Slowakei bei etwa 17 %, 5 % bzw. über 4 %. Wir müssen unsere westlichen Leser nicht daran erinnern, dass die Slowakei kein Paradies ist.