Wirtschaftskrieg gegen die deutsche Bevölkerung?

Author
Christian Zeller
Date
June 19, 2023
In English
En castellano

Geopolitische und energiepolitische Irrungen der Sozialistischen Zeitung

Die Washington Post hat am 6. Juni mit der Publikation einer Enthüllungsgeschichte über die Sabotage der Nord Stream Pipelines erneute allerlei Spekulationen ausgelöst. Die Journalist:innen „enthüllen“ ohne substanzielle Beweise vorzulegen, ein ukrainisches Kommando habe die Pipelines am 26. September 2022 zerstört. Seither macht diese Spekulation die Runde. Vor ein paar Monaten enthüllte Seymour Hersh die USA hätten die Pipelines gesprengt. Bezeichnenderweise folgen nun die ähnlichen Kreise der Ukraine-Hypothese wie vor der USA-Hypothese.

Der Sozialistischen Zeitung erschien der Artikel in der Washington Post so „brisant“, dass sie ihn auf ihrer eigenen Webseite auf Deutsch übernahm. Der Neuigkeitswert ist allerdings beschränkt, da ähnliche „Enthüllungen“ bereits mehrfach aufgetaucht waren.

Fakt ist: wer die Pipelines zerstört hat, bleibt weiterhin unbekannt. Unterschiedliche Akteure können ein Interesse daran gehabt haben. Darüber zu spekulieren, ist politisch sinnlos und lenkt erstens davon ab, wer für diesen Krieg die Verantwortung trägt und vernebelt, zweitens, dass Russland den Bau der Nord Stream Pipelines vorangetrieben hatte, um das Gas nicht mehr durch die Ukraine und Polen zu liefern zu müssen.

Weitete die ukrainische Führung den Krieg auf fremdes Territorium aus?

Angela Kleins Kommentar Sprengung von NordStream 2. Ein Akt ukrainischer Kriegführung ist bizarr. Die langjährige SoZ-Redakteurin nimmt die Enthüllungsgeschichte für einen gesicherten Befund und ordnet sie so in ihre Sicht des Krieges ein, dass sie der ukrainischen Verteidigung sogar einen Wirtschaftskrieg gegen die deutsche Bevölkerung unterstellt. Sie webt auch die Kämpfe russischer Rebellen in der Region Belgorod und die Waffenlieferungen an die Ukraine in ihre Erzählung ein, um der ukrainischen Führung die gezielte Provokation eines Weltenbrandes, also eines Weltkrieges, anzukreiden. Ja sogar Angriffe auf die Krim … Die ukrainische Führung tut, was sie kann, um den Krieg auf fremdes Territorium auszuweiten.“

Ist die Krim fremdes oder gar russisches Territorium? Lässt sich Angela Klein hier von Putin’schen Legenden. Gemäß internationalem Recht ist die Halbinsel Krim ein Teil der Ukraine. Das gilt auch für die anderen von Russland besetzten Regionen der Ukraine.

Führt die ukrainische Führung einen Wirtschaftskrieg gegen die Bevölkerung?

Angela Klein wirbelt die Chronologie der Ereignisse durcheinander. Komplett an den politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten vorbei dreht die Autorin auf und meint:

„Die ukrainische Militärführung (Selenskyi soll darüber nicht informiert worden sein) hat gegen die deutsche Bevölkerung einen Akt des Wirtschaftskriegs durchgeführt. Sie hat Deutschlands Wirtschaftsbeziehungen zu Russland gewaltsam gekappt, um es energiepolitisch in die Abhängigkeit von den USA zu treiben.“

Erinnern wir uns an folgende Fakten:

Die deutsche Bevölkerung brauchte die Nord Stream 1 und 2 Pipelines nie. Die Kapazitäten der bestehenden Pipelines reichten vollständig aus. Anfänglich war sogar die deutsche Industrie aufgrund dieses Sachverhalts vorsichtig, doch Gazprom lockte mit der Vergabe von Eigentumsanteilen an Erdgasvorkommen in Sibirien und damit der Aussicht auf hohe Profite.

Der Bau von Nord Stream 1 und 2 erfolgte auf russische Initiative, um den Transport von Gas durch Polen und die Ukraine zu reduzieren oder gar zu vermeiden. Der Bau der Nord Stream Pipelines war gegen die Ukraine gerichtet, um ihr Durchleitungsgebühren zu entziehen und ihren Einfluss zurückzudrängen. Die deutschen Regierungen unter Schröder und Merkel im Einklang mit den energieintensiven Konzernen betrachteten die Ukraine als unzuverlässig und wollten die strategische Energieallianz mit Russland intensivieren. Das deutsche fossile Kapital wollte kräftig mitverdienen. Die deutsche Industrie war insgesamt scharf auf das günstige Pipelinegas aus Russland. Die russischen und deutschen Interessen fanden zueinander.

Der russische Krieg gegen die ukrainische Bevölkerung und vor allem der überraschend hartnäckige Widerstand der Ukraine veränderten die Situation grundlegend. Im August 2022 stellte Russland einseitig seine Gaslieferungen an Deutschland, nachdem es diese bereits ab Juni gedrosselt hatte, ein. Ab September floss kein Pipelinegas aus Russland nach Deutschland. Die Sprengung der Pipelines geschah am 22. September. Putin hatte die Pipelines also selbst außer Betrieb genommen, um den öffentlichen Diskurs in Deutschland zu beeinflussen und weil offensichtlich wurde, dass Russland sich ökonomisch nach Osten orientieren muss.

Die Pipelines waren zum Zeitpunkt der Explosionen nicht mehr (Nord Stream 1) bzw. noch nicht (Nord Stream 2) im kommerziellen Betrieb. Sogar wenn die ukrainische Militärführung verantwortlich sein sollte, wie sollte sie in dieser Situation einen Wirtschaftskrieg gegen die deutsche Bevölkerung führen können?

Russland begann sich ab Frühjahr 2022 zunehmend intensiver ökonomisch verstärkt nach Asien auszurichten. Bereits Jahre vor dem Krieg begann Russland die fossile Infrastruktur in Richtung China deutlich auszubauen. Russland weitet seit Jahren die fossile Infrastruktur massiv aus. Gazprom ist kein normaler kapitalistischer Konzern, sondern ein zentraler Akteur im russischen Machtapparat, der mittlerweile auch mit einer eigenen Armee in der Ukraine Krieg führt.

Deutschland ist weit davon entfernt, in energiepolitische Abhängigkeit der USA zu geraten. RWE und EnBW haben im Juni 2022 – also vor der Sprengung von Nord Stream – Verträge mit US-Firmen zur Lieferung von LNG geschlossen. Das meiste LNG für Deutschland kommt aus Norwegen, zudem aus Katar, Algerien und Australien. Die USA waren allerdings bereits 2021 der größte Lieferant von LNG für Europa, vor allem die südeuropäischen Länder. Die Beziehungen des deutschen Kapitals mit dem russischen Kapital hängen nicht von der Existenz der Nord Stream Pipelines ab. Angela Kleins Vorstellung ist schlicht absurd.

Nicht wenige Linke argumentierten, die USA seien gegen Nord Stream 1 und 2 gewesen, um Deutschland dazu zu bringen, LNG aus den USA zu kaufen. Das ergab bis Kriegsbeginn keinen Sinn. Das russische Pipelinegas war immer deutlich günstiger und floss bis Putin im Juni und August 2022 selbst den Hahn zudrehten. Niemand in Deutschland wollte teures LNG so lange günstiges russisches Pipelinegas im Überfluss zur Industrie und in die Haushalte floss. Mehr dazu in meiner Analyse der jahrzehntelangen strategischen Energiepartnerschaft der deutschen Industrie mit dem fossilen Kapital in Russland in emanzipation (https://emanzipation.org/2023/03/von-der-geopolitik-zur-geooekonomie/).

Angela Klein phantasiert, dass die ukrainische Militärführung einen Akt des Wirtschaftskriegs gegen die deutsche Bevölkerung durchgeführt habe. Das ist absurd. Putin hatte bereits vorher selbst den Gashahn zugedreht. Über welche politische und ökonomische Macht soll die Ukraine verfügen, um gegen die deutsche Bevölkerung einen Wirtschaftskrieg zu führen? Angela Kleins Konstruktion liegt nicht weit von den Erzählungen von Klaus Ernst und Sahra Wagenknecht für den Wirtschaftsstandort Deutschland.

In einer ökosozialistischen Orientierung sind die Nord Stream Pipelines grundsätzlich abzulehnen. Wer auch immer sie unbrauchbar machte, zerstörte unnötige fossile Infrastruktur. Selbstverständlich ist der Aufkauf von LNG und der Ausbau LNG-Infrastruktur abzulehnen. Darum ist gegen die internationale LNG-Offensive zu mobilisieren. Jede Verlängerung des Gaszeitalters ist klimapolitisch falsch.

Kein Verteidigungskrieg? Will die ukrainische Führung den Krieg zu einem Weltbrand eskalieren?

Doch Angela Klein dreht ihre eigene Eskalationsschraube noch ein paar schwindelerregende Drehungen weiter.

„Das alles hat mit einem Verteidigungskrieg nichts mehr zu tun. Hier wird an einem Weltenbrand gezündelt, um einen lokalen Konflikt zu "lösen". Die von vielen Seiten befürchtete Eskalation durch Lieferung immer weitreichenderer Waffen ist nicht nur real, sie ist ein uneingestandenes Ziel der ukrainischen Kriegsführung.“

Angela Klein meint die Ukraine führe keinen Verteidigungskrieg. Ja, was denn sonst, vielleicht einen Angriffskrieg gegen Russland oder einen Stellvertreterkrieg. Letzteres stünde aber im Widerspruch zu einem eigenmächtigen Angriff gegen die russisch-deutsche Pipeline

Angela Klein wiederholt hier die billige Propaganda jener, die meinen die Ukraine eskaliere denn Krieg.

Erinnern wir uns doch an einige Sachverhalte.

Die Ukraine hat nie russisches Territorium beansprucht. Daran ändern auch ein paar Hundert von der ukrainischen Armee unterstützte rechte Freischärler in der Region Belgorod nichts. Russland beansprucht hingegen weiterhin, die Ukraine als Staat zu zerstören oder zumindest große Teile dieses Staates einzugliedern. Zentrale russische Medien rufen regelmäßig zum Genozid auf. Was bedeutet in diesem Kontext überhaupt Eskalation? Angela Klein meint, dass es weniger der tägliche Raketenterror des russischen Staates gegen die Menschen in der Ukraine ist, sondern es vielmehr die westlichen Lieferungen von Flugabwehrwaffen und Panzern für die Ukraine zur Abwehr dieser Angriffe und des Besatzungsterrors sind, die den Krieg eskalieren.

Mit der gezielten oder zumindest bewusst in Kauf genommenen Zerstörung des Staudamms Kachowka und der Sprengung weiterer kleinere Staudämme setzt Russland die gegen die ukrainische Gesellschaft gerichtete zerstörerische Eskalationsstrategie fort. Landwirtschaftsland ist auf Jahre zerstört und teilweise vergiftet. Machen wir doch das zum Thema, anstatt über einen imaginären Wirtschaftskrieg der Ukraine gegen das deutsche Proletariat zu phantasieren.

Angela Klein suggeriert, eine linke Regierung würde eine komplett andere Verteidigungsstrategie wählen. Vielleicht, das wissen wir nicht. Doch erinnern wir uns daran, wie Fidel Castro die Raketenkrise 1962 „lösen“ wollte. Großmäulig kritisierte er den russischen Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow für seine Nachgiebigkeit, als dieser die Raketen von Insel abzog. Hätte er gar einen Atomkrieg riskiert? Erinnern wir uns daran, wie die nordvietnamesische Führung um Lê Duẩn den Befreiungskrieg „eskalierte“. Nahm die Tet-Offensive 1968 wirklich so große Rücksicht auf die Bevölkerung und die eigenen Kräfte? Hören wir doch auf mit der linken Legendenbildung! Dank guter Flugabwehrsysteme muss jetzt die Bevölkerung der Ukraine deutlich weniger leiden. Doch genau diesen Schutz will ihr die deutsche Linke verwehren.

Je wirksamer die ukrainische Verteidigung wirkt, desto kleiner ist die Gefahr einer weiteren militärischen Eskalation und Ausweitung des Krieges, desto eher werden die russischen Eliten erkennen, dass sie eine Exitstrategie aus ihrer Eskalation brauchen.

Irgendwann wird es Verhandlungen geben. Je eher die russische Führung zur Einsicht gebracht wird, dass sie diesen Krieg nicht gewinnen werden und jede Fortsetzung der Kampfhandlungen mit einem Verlust von Macht einhergehen wird, desto eher wird zu Verhandlungen kommen. Solange das Putin-Regime meint, eine Fortsetzung des Besatzungskrieges könne ihren Interessen mehr dienen als ein Rückzug, wird der Krieg andauern.

Mit dem hier kritisierten Kommentar von Angela Klein setzt die Sozialistische Zeitung ihren verstörenden Schlingerkurs zum russischen Krieg gegen die ukrainische Bevölkerung fort. Sie scheute sich nicht, Verschwörungsgeschichten aufzutischen und reaktionäre Putin-Freunde ausgiebig zu Wort kommen lassen (siehe meine Kritik langen Artikel von Jacques Baud im Mai 2022 in Die Freiheitsliebe https://diefreiheitsliebe.de/politik/ambivalenz-gegenueber-dem-putin-regime-und-dem-ukrainischen-widerstand/). Auch Unterstützer der Mafiaregimes in Donezk und Luhansk sind willommen. Gewissermaßen zum Ausgleich publizierte die SoZ auch Interviews mit ukrainischen Sozialist:innen.

Bereits im Oktober 2022 lobte die Angela Klein in einem Kommentar Sahra Wagenknecht für ihre Kritik an den Wirtschaftssanktionen (https://www.sozonline.de/2022/10/wagenknechts-rede-im-bundestag/). Wagenknecht folgend führte Angela Klein die wirtschaftlichen Verwerfungen in Deutschland auf die Sanktionspolitik gegen Russland zurück. Dafür gibt es weiterhin keine empirischen Belege.

Mit ihrem Spagat zwischen halber Unterstützung ukrainischer Gewerkschaften und halber Verharmlosung des russischen Imperialismus macht sich die Sozialistische Zeitung entbehrlich.