Lukaschenkos fauler Frieden - Der Diktator stilisiert sich zum Garanten des Friedens in Belarus

Umfragen zufolge ist die Mehrheit der Belarussen dagegen, bela­russische Soldaten in den Krieg gegen die Ukraine zu schickten. Diktator Aleksandr Lukaschenko macht sich das zunutze, um sich als Bewahrer des Friedens darzustellen.

Vilnius. Belarus erregte in den Jahren 2020 und 2021 für eine kurze Weile die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit. Auf gefälschte Präsidentschaftswahlen folgte damals eine in der Geschichte des Landes beispiellose Protestmobilisierung und eine ebenso beispiellose Massenrepression, die zur erzwungenen Emigration von Hunderttausenden aus Belarus mit seinen einst 9,4 Millionen Einwohnern führte.

Die Repression dauert seitdem an, doch Belarus ist aus den Schlagzeilen verschwunden, insbesondere seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022. Russische Streitkräfte nutzten damals zwei Monate lang be­larussisches Territorium als Aufmarschgebiet für die Invasion und weitere sechs Monate für den Abschuss von Raketen.

Die belarussische Armee hat nicht an Kampfhandlungen gegen die Ukraine teilgenommen, doch gibt es zahlreiche Belege für die Beteiligung an der Wartung russischer Militärtechnik, der Versorgung der russischen Armee und an der Entführung ukrainischer Kinder ins Ausland. Auch ein sogenanntes Filtrationslager zur Inhaftierung ukrai­nischer Soldaten und Zivilisten gab es auf belarussischem Boden.

Andererseits unternahmen belarussische Partisanen etwa 80 Sabotage- oder Störaktionen, um die Verlegung russischen Militärgeräts in Richtung Kiew zu verlangsamen. In der Ukraine bildeten belarussische Freiwillige im März 2022 das Kastus-Kalinouski-Regiment (benannt nach einem Rebellen des 19. Jahrhunderts gegen das zaristische Imperium), das seitdem auf ukrainischer Seite kämpft.

In der Regierungspropaganda wird die Tatsache, dass Belarus nicht aktiv am Krieg teilnimmt, keines­wegs als offener Gegensatz zwischen Belarus und Russland dargestellt.

Trotz dieses widersprüchlichen Bildes wird Belarus in der EU oft einfach dem russischen Lager zugeschlagen. Die Realität ist aber komplizierter. Dass ihr Land nicht aktiv am Krieg teilnimmt, ist für die belarussische Gesellschaft von fundamentaler Bedeutung, auch wenn die wahren Gründe dafür nicht öffentlich diskutiert werden. Es gibt in Belarus keine Binnenflüchtlinge, man sieht keine Militärbegräbnisse oder Veteranen ohne Gliedmaßen, und Städte werden nicht durch Drohnenangriffe zerstört. Und anders als in Russland hat sich die Möglichkeit, sich zum Krieg gegen die Ukraine freiwillig zu melden, nicht als Methode des finanziellen Aufstiegs etabliert.

Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Belarussen denkt, dass Belarus sich nicht im Krieg befinde, und auch keine Beteiligung am Krieg will. Trotz der ­repressiven Verhältnisse, die das Regime geschaffen hat, haben viele Belarussen demnach das Gefühl, noch etwas zu verlieren zu haben. Diese Intuition macht sich Aleksandr Lukaschenkos Rhetorik zunutze: Er stellt den Frieden in Belarus als eine der wichtigsten Errungenschaften seiner Herrschaft dar, den es zusammen mit der belarussischen Souveränität zu bewahren gelte. Denn Umfragen zufolge wäre auch der Verlust der Eigenstaatlichkeit zugunsten eines Anschlusses an Russland durchweg unpopulär.

Die belarussische Wirtschaft profitiert vom Krieg

In der Regierungspropaganda wird die Tatsache, dass Belarus nicht aktiv am Krieg teilnimmt, keineswegs als offener Gegensatz zwischen Belarus und Russland dargestellt. Das wäre für das Lukaschenko-Regime zu riskant. Doch die Propaganda zeichnet vor dem Hintergrund der Zerstörung in der Ukraine das Bild eines fragilen Friedens in Belarus, der von der Diktatur geschützt wird. Das lenkt auch die Aufmerksamkeit von den tagtäglich stattfindenden politisch motivierten Verhaftungen und Entlassungen ab.

Belarussen leiden im Gegensatz zu Ukrainern und Russen nicht unter dem Krieg, die Wirtschaft profitiert sogar von der kriegsbedingt gestiegenen Produktion, unter anderem von Waffen für das russische Militär, und dem Handel mit Russland. Vor allem aber hat die Diktatur es geschafft, die Demokratiebestrebungen zu erdrücken, unter anderem, indem sie behauptet, dass deren Erfolg letztlich die Verwicklung in den Krieg mit sich brächte. Das Regime schürt zwar keinen Hass auf Ukrainer, wohl aber auf die politischen Gegner in der belarussischen Bevölkerung, die es als Verräter darstellt und gegen sie hetzt.

Das Gefühl, sich nicht im Krieg zu befinden, wirkt sich auch darauf aus, wie die westlichen Staaten in Belarus wahrgenommen werden, insbesondere die Sanktionen, die sie gegen Belarus verhängt haben. Für Belarussen am wichtigsten sind die Reisebeschränkungen, auch, weil aufgrund der erzwungenen Emigration von Hunderttausenden eine große Zahl von ihren Ange­hörigen getrennt lebt.

Sanktionen gegen Belarus

Seit 2022 haben viele EU-Länder Beschränkungen für Touristen- oder ­andere Visa für Personen mit belarussischem Pass eingeführt. Auch die Schließung der konsularischen Vertretungen und Botschaften einiger EU-Staaten in der Hauptstadt Minsk hat die Beantragung eines Visums wesentlich schwieriger gemacht, denn dafür muss man nun oft nach Russland reisen. Die deutsche Botschaft in Belarus lässt sich nach Beantragung eines Visums auf ihrer Website oftmals bis zu acht Monate Zeit, einen Besuchstermin mitzuteilen, und dieser kann dann anderthalb Jahren später liegen.

Es sind nicht nur die Visa-Beschränkungen, die den in Belarus Verbliebenen den Eindruck vermitteln, die EU und der Westen insgesamt interessiere sich nicht für sie. Der Rückzug von Tinder im Jahr 2023 beispielsweise überließ russischen Dating-Apps den Markt. Im Juli 2024 weigerten sich die Urheberrechtsinhaber von J.K. Rowlings Harry-Potter-Reihe mit Verweis auf die Sank­tionen, eine Übersetzung ins Belarussische zu erlauben. Schließlich wurde doch eine Genehmigung erteilt, jedoch darf das fragliche Buch nur in der EU verkauft werden, nicht in Belarus selbst.

Der Eindruck vieler Belarussen, für die EU und den Westen insgesamt nicht von großer Bedeutung zu sein, verstärkte sich im August 2024, als Russland und die westlichen Länder politische Gefangene gegen russische Agenten austauschten, inhaftierte belarussische Oppositionelle dabei jedoch ignorierten, obwohl Belarus im Rahmen des Deals einen deutschen Staatsbürger freiließ. In der von Desinformation und einer ­starken politischen Polarisierung geprägten belarussischen Öffentlichkeit können Lukaschenko- und Russland-Anhänger (zwei Gruppen, die sich zwar stark überschneiden, aber nicht identisch sind) solche Geschichten entsprechend ausschlachten.

Die Dinge könnten noch viel schlimmer werden

Das Lukaschenko-Regime erhofft sich offenbar etwas davon, dass es den westlichen Regierungen gewisse Zu­geständnisse macht, beispielsweise die Freilassung politischer Gefangener oder die Ausweitung der Visafreiheit für EU-Bürger in Belarus – oder eben, dass belarussische Truppen sich nicht am Krieg gegen die Ukraine beteiligen. Auch innenpolitisch versucht das Regime, nicht nur seine militärische und eine gewisse politische, sondern auch die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Russland zu bewahren, beispielsweise indem es die Wirtschaftsbeziehungen zu China und anderen asiatischen Ländern ausbaut.

In der EU und in einem Teil der belarussischen Demokratiebewegung herrscht die Meinung vor, die Sanktionen gegen Belarus sollten nicht auf­gehoben werden, solange sich das Land nicht »entschlossen auf die richtige Seite schlägt«. In Belarus dürften viele allerdings eher der Ansicht sein, dass sie sich auf keine Seite geschlagen haben. Vielmehr befürchten sie, dass mit einer Parteinahme die Gefahr eines Kriegs auf dem eigenen Territorium verbunden wäre, ob das nun wahrscheinlich ist oder nicht.

Die unangenehme Wahrheit lautet, dass sich in diesem Punkt die Befürchtungen und Interessen Lukaschenkos sowie seiner Funktionäre mit denen vieler Belarussen decken, auch wenn sie sonst ganz andere Vorstellungen haben mögen. Viele Belarussen sind mit dem Bewusstsein in das neue Jahr gegangen, dass die Dinge noch viel schlimmer werden könnten, als sie schon sind.