Gewaltloser Protest funktioniert nicht

Author
Marija Menschikowa Wilfried Dubois Angela Klein
Date
June 1, 2023
In English
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Über die Schwierigkeiten, in Russland Öffentlichkeitsarbeit zu machen

Marija Menschikowa ist Russin, wohnt in Deutschland seit Oktober 2020 und promoviert an der Ruhr-Universität Bochum. Sie ist seit Anfang 2019 Mitglied der Russischen Sozialistischen Bewegung (RSD). Sie betreut das Online-Nachrichtenportal Doxahttps://doxa.team/

Das Gespräch führten Wilfried ­Dubois und Angela Klein

In Russland wurde ein Strafverfahren gegen dich eingeleitet, der Vorwurf lautet »Aufruf zu terroristischen Handlungen«…

Genau gesagt lautet der entsprechende Artikel im Strafgesetzbuch: »Rechtfertigung von und Aufruf zu terroristischen Handlungen im Internet«, letzteres wiegt besonders schwer, weil man über das Internet mehr Leute erreicht.

Was sollen das für terroristische Handlungen gewesen sein?

Der Beitrag im sozialen Netzwerk VKontakt, um den es geht, ist nicht von mir persönlich, sondern von Doxa. Auf diesem Portal gab es zwei Aufrufe: einen zum Abonnieren des Newsletters von Doxa mit Nachrichten über den Krieg und über radikale Aktionen in Russland – etwa Brandanschläge gegen Rekrutierungsbüros und gegen die Eisenbahn. VKontakt ist in Russland blockiert – die Seite von Doxa in VKontakt ist blockiert. Es gibt aber Telegram, das ist ein wichtiges Medium für Russ:innen, weil es ohne VPN über eine Mailingliste erreichbar ist. Normalerweise kann man keine Seite erreichen, wenn man nicht VPN nutzt.

Der zweite Aufruf war, Briefe an Leute zu schicken, die wegen angeblicher Brandanschläge in Untersuchungshaft sitzen. Ein Mensch, der in diesem Beitrag erwähnt wird, wurde zu zwölf Jahren Haft verurteilt – wegen »Terrorismus«. Dass man Terrorismus nicht finanziell unterstützen darf, das versteht sich, aber Briefe zu verbieten ist unmenschlich. Ich sehe eine Gefahr darin, dass man eine solidarische Aktion wie Briefe an politische Gefangene kriminalisiert. Denn es gibt in Moskau und St. Petersburg sog. Briefabende, das ist eine irgendwie noch legale Möglichkeit für Leute, sich zu treffen und eine kollektive solidarische Aktion zu machen. Die Briefabende sind öffentlich oder halböffentlich, und es sind hauptsächlich Frauen, die sie organisieren.

Bist du die einzige, die wegen dieses Artikels belangt wurde?

Gottseidank ja. Es ist, weil ich Admin des Portals bin.

Fürchtest du Nachstellungen des russischen Geheimdienstes gegen dich hier in Deutschland?

Weiß ich nicht, ich bin nicht super paranoid deswegen. Richtig gefährlich ist es in Russland. Wenn ich dorthin fahre, drohen mir bis zu sieben Jahre Haft bzw. eine Geldstrafe. Es gibt auch unsichere Länder, die mich ausliefern würden, etwa Usbekistan, Belarus, Kasachstan, Armenien u.a. Meine Konten in Russland können blockiert werden, aber da habe ich kein Geld darauf. Ich erwarte, dass ich auf eine Liste von angeblichen Terroristen und Extremisten komme, da sind mehr als tausend Leute drauf und die Zahl steigt.

Sobald ich die Dokumente aus Moskau erhalte, möchte ich hier zur Polizei gehen und sagen: Ich bin verfolgt wegen Terrorismus, aber bin ich keine Terroristin, ich bin hier ganz legal. Ich will das machen, um sicher zu gehen.

Ziehst du Schlussfolgerungen in bezug auf deine Tätigkeit für Doxa?

Nein, das ist keine Frage für mich, ich bin hier in Sicherheit, es ist wichtig, dass es noch Leute gibt, die mit offenem Visier handeln können.

Wie beurteilst du die Haltung der Bundesregierung gegenüber Menschen, die aus Russland fliehen? Etwa Männer, die nicht zur Armee eingezogen werden wollen?

Zuerst muss ich sagen, die Haltung von Deutschland ist eine der besten. Deutschland nimmt nicht nur ukrainische Flüchtlinge auf und gibt viel Hilfe, das muss man einfach zugeben und das ist gut. Es gibt auch ein Programm für russische politische Emigrant:innen, die in Russland Verfolgung überlebt haben und gefährdet sind, sie bekommen humanitäre Visa, das ist eine wichtige Sache.

Aber um ein humanitäres Visum zu bekommen, muss man verfolgt werden. Potenzielle Soldaten sind aber nicht immer politisch verfolgt oder überhaupt politisch aktiv. Sie müssen irgendwie beweisen, dass sie verfolgt werden, wenn sie sich einer Einberufung widersetzen. Widersetzen sie sich aber, droht ihnen ein Verfahren. Dann wird es schwierig für sie, ein Visum zu beantragen. Und wenn sie versuchen, ohne Visum nach Deutschland zu kommen, etwa über die Türkei, dann ist es höchst unsicher, ob sie hier landen und Asyl beantragen können.

Es ist unverschämt und skandalös, touristische Visa nicht zu bestätigen. Es gab Fälle, wo Männer aus Russland ein Touristenvisum für Deutschland beantragt haben. Sie haben keins bekommen mit dem Argument, dass sie einberufen werden könnten. Auf welcher Seite steht die Ausländerbehörde hier?

Was ist Doxa für eine Zeitschrift, wie entstand sie, wer trägt sie?

Doxa ist eine russischsprachige Onlinezeitschrift, sie entstand 2017 als Zeitschrift der Studierenden der Wirtschaftshochschule Moskau. Das ist eine sehr prestigeträchtige Uni, bekannt dafür dass ihre Verwaltung sehr liberal ist und die Dozierenden progressiv, darin ist sie einzigartig. Doxa hatte ein, zwei Jahre lang den Status einer studentischen Organisation; ihr Schwerpunkt lag immer auf Fragen der Universität, der Studierenden, ihrer Rechte und der der Lehrenden, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit. Ich habe die Zeitschrift 2018 kennengelernt, als ich an einer Doxa-Konferenz über Mai 68 teilgenommen habe.

Schon die erste Publikation von Doxa löste einen Skandal aus, denn sie berichtete über die schlechtesten Kurse im Bereich der Humanwissenschaften. Manche haben gesagt, die Professoren haben kein Geld für die Vorlesungen verdient, die sie geben. Später hat sich unser Themenfeld erweitert, wir haben über Probleme geschrieben, die Studierende im allgemeinen haben, die niedrigen Stipendien, die zum Leben nicht reichen, so dass man gezwungen ist, nebenher zu arbeiten. Jetzt schreiben wir gegen den Krieg, die Diktatur und die Ungleichheit, über politische Rechte, Arbeitsrechte oder LGBT-Rechte, ökologische Probleme – und über Protest und Widerstand.

Ich habe dann angefangen, regelmäßig für Doxa zu schreiben. Daraus ist die Nachrichtenabteilung entstanden, am Anfang war ich damit allein, jetzt ist es ein wichtiger Bereich.

Wieviele Leser:innen habt ihr?

Wir haben über 30000 Follower auf Twitter, 50000 auf Telegram, mehr als 100000 auf Instagram und mehrere tausend auf Facebook. VKontakt gibt es auch, aber das ist leider für uns kein Medium mehr, VKontakt ist in Russland blockiert.

Sind eure Leser:innen hauptsächlich an Universitäten zu finden oder bedient ihr weitere Kreise?

Unsere Leser:innen sind Studierende aus ganz Russland, es ist ganz wichtig, dass wir ihr Vertrauen behalten, dass sie uns schreiben. Wir wenden uns an alle interessierten Auszubildenden und ausgebildeten Leute, die russisch lesen können und sich für Probleme interessieren, die wir gemeinsam in der Welt haben.

Ich arbeite derzeit mit anderen Kolleg:innen an einem Projekt über den Druck, den Studierende wegen des Krieges erfahren – etwa wenn die Uni eine Umfrage macht, wie man zu Putin oder zum Krieg steht; wenn man angeworben wird, an einem Z-Flashmob teilzunehmen; wenn man von der Uni ausgeschlossen wird wegen der Teilnahme an einer Antikriegsdemo… Wir haben eine sehr große Datenbank mit solchen Fällen aufgebaut, und wir haben in den Nachrichten darüber berichtet. Wir wollen ein Z-Ranking von russischen Hochschulen und Universitäten erstellen, aus dem man ersehen kann, wie groß die Unterstützung für den Krieg von der jeweiligen Uni ist und welche Unis nicht auf unserer Liste stehen. Nicht alle Unis und Hochschulen haben den Krieg unterstützt.

Was halten die Studierenden vom Krieg?

Das ist schwer zu beurteilen. Viele wollen an Umfragen einfach nicht teilnehmen, das war schon vor dem Krieg so. Eine Umfrage ist wie ein Gespräch mit dem Staat, mit Putin, da zeigt man lieber Loyalität. Wir können aber feststellen, dass Studierende Doxa lesen, weil sie uns per Telegram Bots schreiben, sie vertrauen uns. Man soll aber auch nicht behaupten, dass alle Studierenden progressiv sind.

Gibt es solche Onlinenachrichtenportale auch in anderen Sektoren der Gesellschaft?

Es gibt drei, vier Telegram-Kanäle, die über Universitäten in Nowosibirsk, Kasan usw. berichten. An der Wirtschaftshochschule Moskau selbst gibt es sehr viele Telegram-Kanäle, aber nachdem die Zensur strenger wurde und es im Jahr 2020 eine Welle von politisch motivierten Kündigungen von Dozierenden gegeben hat, sind die Kanäle nicht mehr so weitreichend und lebendig. Viele progressive Dozierende haben diese Uni verlassen.

Es gibt auch Telegram-Kanäle von Organisationen zur Verteidigung der Menschenrechte, die über LGBT-Rechte oder über politische Gefangene berichten; Kanäle von ökologischen Initiativen, Tierschutzinitiativen, Nachbarschaftsinitiativen… Auch von Gewerkschaften. Es gibt sehr viele Initiativen, die gegen die Zensur in Russland kämpfen, nicht nur große liberale Medien, auch viele kleinere Telegram-Kanäle. Telegram ist nicht blockiert, weil sonst die Hälfte des Internet blockiert wäre.

Ihr berichtet auch über militante Aktionen.

Wir haben ganz bewusst entschieden, mehr über militanten Widerstand zu berichten, damit sind wir nicht allein. Insider haben sogar einen Leitfaden erstellt, wie man sicher eine Sabotageaktion an der Eisenbahn machen kann. Medien schieben sich in Richtung des wirklichen Widerstands gegen den Krieg, berichten nicht nur von gewaltlosen Protesten. Der ist nicht möglich und er funktioniert nicht.