Frieden in der Ukraine und ökosozialistische Perspektiven in Europa

Warum wir die Solidarität mit ukrainischem Widerstand mit dem Kampf für einen ökosozialistischen Umbruch in Europa verbinden müssen.

In diesem Beitrag erläutere ich die Anliegen der Erklärung Ukraine: a People’s Peace not an Imperial Peace / Ukraine: ein Frieden der Bevölkerungen, kein imperialer Frieden.[1] Zunächst frage ich anhand zweier Szenarien über den Kriegsverlaufe nach der breiteren gesellschaftlichen Entwicklung. Dann antworte ich auf einige unrealistische Vorstellungen über einen Waffenstillstand und eine Einfrierung des Kriegs auf den bestehenden Frontlinien. Schließlich stelle ich in mehreren Schritten zentrale strategische Überlegungen vor. Damit will ich zu einer transnationalen Debatte darüber anregen, wie sich die Solidarität mit dem ukrainischen Widerstand mit einer umfassenden Friedensperspektive in Europa und schließlich einer Orientierung auf eine ökosozialistische Umgestaltung des gesamten Kontinents verbinden lässt.

1 Mögliche Szenarien

Um die Tragweite des russischen Krieges gegen die ukrainische Bevölkerung zu erfassen, ist es hilfreich, diesen Krieg auch von seinem möglichen Ende her zu denken und damit Schlussfolgerungen für die Gegenwart ziehen.

Welche Konsequenzen für die Ukraine und Europa ergeben sich, wenn sich Russland zumindest teilweise durchsetzen kann? Putin bekräftigte am 14. Juni seine Minimalforderungen für eine Waffenstillstand: Russland beansprucht neben der besetzten Halbinsel Krim, den weitgehend besetzten Oblasten Donezk und Luhansk, auch die weitgehend unter ukrainischer Kontrolle stehenden Oblaste Saporischschja und Cherson in Russland zu integrieren. Putin bestreitet die Legitimität der ukrainischen Regierung. Folglich verlangt er ihren Sturz, ebenso die Demilitarisierung der Ukraine und die Absage an eine NATO-Mitgliedschaft.[2] Die andauernde Offensive im Norden zielt darauf, weite Teile der Bevölkerung in Charkiw zur Flucht zu zwingen. Ganz offen erklärt Putin, dass die politische Ordnung Europas umgewälzt werden müsse.

Bei einem Waffenstillstand auf dieser Grundlage würden mehrere Millionen Menschen erneut fliehen. Die besetzten Gebiete würden gewaltsam russifiziert. Filtrations- und Gefangenenlager würden das Land überziehen. Jegliche demokratische, gewerkschaftliche, feministische und umweltpolitische oder gar sozialistische Opposition wäre verunmöglicht und würde physisch vernichtet werden. Diese Einschätzung ist keine Schwarzmalerei, weil diese Zustände bereits jetzt Realität in den russisch besetzten Gebieten sind. Möglicherweise käme es zu einer massiven Krise in der restlichen Ukraine, einem Erstarken extrem nationalistischer Kräfte und verschärften autoritären Tendenzen. Dieses Szenario würde den Aufstieg faschistische Kräfte in Russland und anderswo bekräftigen. Das Putin-Regime würde sich für Jahre als Führungskraft faschistischer und nationalkonservativer Strömungen in Europa etablieren. Es gäbe keine Spielräume mehr für sozialökologische Reformen. Die Übernahme der US-Präsidentschaft durch Trump würde dieses Szenario beschleunigen und vor allem international ausweiten. Sollte der ukrainische Widerstand gegen zukünftige russische Offensiven aufgrund mangelnder Unterstützung gar einbrechen, würde sich dieses Szenario noch deutlich verschlimmern.

Wenn die Ukraine ihre Souveränität verteidigen kann, gibt es eine Chance auf eine demokratische Entwicklung und den Wiederaufbau sozialistischer und ökologischer Kräfte im Rahmen der sozialen Bewegungen in der Ukraine. Angesichts der immensen Zerstörungen und der anhaltenden Isolation emanzipatorischer Strömungen in der ukrainischen Gesellschaft ist diese Perspektive keineswegs gesichert, aber sie bleibt möglich. Das würde auch Möglichkeit eröffnen, dass die sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, feministischen, sozialistischen und anarchistischen Organisationen in der Ukraine ihre Zusammenarbeit mit Partner:innen in anderen Ländern Europas und anderswo auf der Welt vertiefen und erweitern können, um auf dieser Grundlage gemeinsame Vorstellungen einer solidarischen Entwicklung in Europa zu entwickeln. Ist aber die Ukraine zerstört und zu großen Teilen von Russland besetzt, werden diese gesellschaftlichen Zusammenhänge zersetzt sein. Ein demokratisches gesellschaftliches Leben wird während vielen Jahren unmöglich sein.

2 Unrealistische Vorstellungen

In der öffentlichen Diskussion, an der sich auch Exponent:innen aus dem linken Spektrum beteiligen, werden wiederholt unrealistische Vorstellungen über eine Beendigung der Krieges geäußert. Ich gehe kurz auf drei Positionen ein, die allesamt nicht nur unrealistisch sind, sondern mehr oder weniger ausgeprägt auf einen Sieg der Putin-Diktatur hinauslaufen.

Den Krieg einfrieren

Eine häufig geäußerte Vorstellung geht davon aus, der Krieg lasse sich etwa entlang der bestehenden Frontlinie einfrieren. Aber wie soll ein Krieg eingefroren werden, wenn die angreifende Macht ständig weiter angreift und auch offen erklärt, dass sie den Krieg nicht eher beenden wird, bis die Regierung des angegriffenen Landes gestürzt ist, die Gesellschaft politisch gesäubert ist und weitere Territorien und große Städte der angreifenden Macht anheimfallen, und zwar auch solche, die sie militärisch nicht kontrolliert?

Putin und zahlreiche Mitglieder seines Führungszirkels erklären seit Beginn des Großangriffs am 22. Februar 2022 auf die Ukraine unablässig, dass sie keine souveräne Ukraine akzeptieren, die dortige Regierung stürzen und die Ukraine zusammen mit Belarus als Teil des Großrussischen Reiches betrachten. In Russland gibt es zudem keine politische Kraft, die eine Perspektive des „Einfrierens“ aufgreift. Die Putin-Diktatur hat die Antikriegsbewegung physisch und politisch vernichtet. Feministische, sozialistische, anarchistische und demokratische Kräfte können nur noch klandestin arbeiten. Viele kritische Köpfe haben das Land längst verlassen. In dieser Situation vom angegriffenen Land zu verlangen, den Krieg einzufrieren, aber nicht zu überlegen, wie man den Druck auf das angreifende Land erhöhen kann, ist nicht nur weltfremd. Eine solche Position kommt  den imperialistischen Interessen des Angreifers entgegen.

Abtreten von Territorien und Menschen an die Putin-Diktatur

In derselben Logik, aber weiter geht die Vorstellung, dass die Ukraine weite Teile ihres Territoriums aufgeben solle. Es liefe darauf hinaus, mehrere Millionen Menschen der Diktatur von Putin auszuliefern. Womit würde sich Putin zufriedengeben? Er verlangt zusätzlich die Städte Cherson und Saporischschja, oft auch Charkiw und sogar Odessa. Es ist offensichtlich, dass dies zu einer immensen Fluchtwelle führen würde, wie wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr kannten, nicht zuletzt nach Deutschland.

Wer meint, die Ukraine solle Gebiete an Russland abtreten, steht in der Pflicht zu erklären, was das konkret bedeuten würde. Es würde konkret bedeuten, dass Millionen von Menschen einem Terrorregime ausgeliefert würden. Da die betroffenen Menschen das nicht akzeptieren würden, gäbe es eine riesige Fluchtwelle. Machen sich jene, die jetzt von der Ukraine verlangen, Gebiete an Russland abzutreten, auch Gedanken darüber, was das für diese Menschen bedeuten und vor allem, welche politischen Dynamiken das in ganz Europa auslösen würde? Dieses Szenario würde den weiteren Aufstieg faschistischer Kräfte in Europa massiv begünstigen, mit tatkräftiger Unterstützung durch Putin und Trump, sollte dieser wieder US-Präsident werden. Wer aus der deutschen Linken oder der sogenannten Friedensbewegung ist ehrlich genug, auf diese Sachlage zu antworten?

Ich erinnere bei dieser Gelegenheit an die Zustände in den besetzten Gebieten, wo Millionen von Menschen ihre Heimat seit 2014 bereits verlassen haben. Die Realität heißt keine eigenständige politische Organisierung, verallgemeinerte Repression, Filtrations- und Gefangenenlager, Enteignungen und Vertreibungen.[3] Der russische Staat realisiert in den besetzten Gebieten der Ukraine ein sehr gewalttätiges koloniales Siedlungsprojekt[4]. Die ukrainische Bevölkerung wird vertrieben und Russ:innen werden ermuntert, die Gebiete zu besiedeln. Immobilienfirmen plündern ukrainisches Eigentum.

Ein Instrument des Massenterrors des russischen Staates in den besetzten Gebieten ist die massenhafte Entführung von Kindern. Die ukrainische Regierung schätzt, dass 20 000 Kinder aus den besetzten Gebieten nach Russland verfrachtet wurden. Berichte in Financial Times[5] und New York Times[6] dokumentieren diese Strategie. Gemäß der Konvention der Vereinten Nationen über den Genozid (Vollversammlung vom 9. Dezember 1948) erfüllt diese Praxis den Tatbestand des Genozids.[7]

Ukraine neokolonial aufteilen

Noch weiter gehen offen neokoloniale Ratschläge, die Ukraine aufzuteilen. Der westliche Teil solle in die NATO integriert werden, der östliche Russland zufallen. Diese Lösung könne man aber nicht der Definitionsgewalt der ukrainischen Regierung überlassen, sondern die dritten Mächte, die Geld und Waffen liefern, müssten dafür sorgen. Vertreter:innen dieser Position stellen die ukrainische Regierung als Kriegstreiberin dar, die den „Westen“ in den Krieg hineinziehen will. Zugleich akzeptieren die Anhänger:innen dieser Position, dass das dem Faschismus nahestehende Putin-Regime, das international faschistische Kräfte unterstützt, mit Gebietsgewinnen belohnt wird.

Wer aus Deutschland vorschlägt, die Westmächte und Russland sollen sich die Ukraine untereinander aufteilen, reiht sich in eine reaktionäre und koloniale Tradition ein, die vor allem in Deutschland und Russland in unterschiedlichen Fassungen fortlebt. Für beide Mächte waren die Gebiete zwischen ihnen jeweils nur Pufferzonen, Übergangs- und Aufmarschgebiete. Das Deutsche Reich und die Sowjetunion unter Stalin haben dies im Molotow-Ribbentrop-Pakt, der auch als Hitler-Stalin-Pakt bekannt ist, am 24. August 1939 eiskalt praktiziert.

Auch die nicht so friedliche Entspannungspolitik der SPD akzeptierte die geopolitischen Einflusszonen und Ansprüche. Das brachte beispielsweise Egon Bahr 1981 dazu, der Sowjetunion präventiv das Recht einzuräumen, in Polen einzuschreiten, um die eigenen Interessen zu wahren. Damit legitimierte er den Militärputsch von General Jaruzelski gegen die polnische Selbstverwaltungsbewegung und die Gewerkschaft Solidarnosc bevor dieser überhaupt stattgefunden hatte. Egon Bahr beschuldigte die verbotene Gewerkschaft Solidarnosc den Frieden in Europa zu gefährden und argumentierte, dass die demokratischen Anliegen der Menschen in Polen gegenüber dem Frieden der Blöcke und den Interessen der Sowjetbürokratie zurücktreten müssten.[8] Die SPD-Führung stellte sich damit offen auf die Seite der stalinistischen Diktatur und ihrer Großmachtinteressen.

Diese reaktionäre Position findet heute in den Äußerungen einiger wichtiger SPD Politiker:innen ihre Fortsetzung. Auch Exponent:innen der Partei DIE LINKE stellen sich in diese Tradition. Es ist genau diese in Deutschland durchaus verbreitete Haltung, die es der deutschen Linken unmöglich macht, einen fruchtbaren Dialog mit Sozialist:innen, Feminist:innen und Anarchsti:innen in der Ukraine, Belarus und anderswo in Osteuropa zu führen.

Koloniale Herrschaft und Selbstbestimmung

Die genannten Positionen gehen davon aus, dass es in diesem Krieg primär um Territorien gehe, die man je nach Kriegsverlauf neu zuordnen könne. Das zentrale Motiv des Putin-Regimes ist die Zerstörung der Ukraine als eigenständigen Staat und die Infragestellung der Existenz einer ukrainischen Nation. Dieses Motiv besteht unabhängig von der NATO. Ein NATO- oder EU-Beitritt stand nie unmittelbar bevor. Seit dem Beitritt Finnlands steht die NATO tatsächlich an der russischen Grenze. Dennoch zog Putin massiv Truppen aus der dortigen Grenzregion ab, um sie in die Ukraine zu schicken. Putin sorgt sich nicht um die NATO, er fürchtet sich vielmehr vor eigenständigen und demokratischen Erhebungen in der Peripherie Russlands, die ins Zentrum ausstrahlen, wie beispielsweise die Maidan-Revolte im Winter 2014-15 in der Ukraine und die gewaltsam niedergeschlagene Erhebung kasachischer Arbeiter:innen im Winter 2021-22. Das Putin-Regime stellt sich in die Tradition des zaristischen Russlands, verleiht dieser einen modernen totalitären Anspruch und hat erfolgreich jegliche subjektive Regung aus der Bevölkerung zerschlagen, was etliche russische Sozialwissenschaftler:innen dazu bringt, das Herrschaftssystem als dem Faschismus[9] ähnlich zu bezeichnen.

Es ist offensichtlich, dass ein Sieg des Putin-Regimes gegen die Ukraine den faschistischen Kräften in ganz Europa und darüber hinaus einen ungeheuren Schub verleihen würde. Das Putin-Regime ist eine ausgeprägte fossile Diktatur. Diese Diktatur hat bereits vor der Großoffensive gegen die Ukraine in ihrer Energiestrategie explizit den Ausbau der Öl- und Gasförderung für mehrere Jahrzehnte beschlossen. Die Erträge, aus dem Öl- und Geschäft sind entscheidend für die Kriegsfinanzierung.

Gegenüber den oben angeführten Positionen schlägt die Erklärung „Ukraine: A People’s Peace not an Imperial Peace“ eine komplett andere Perspektive vor. Sie verbindet die Verteidigung der demokratischen Selbstbestimmung der ukrainischen Bevölkerung mit der Orientierung auf eine radikale gesellschaftliche und ökologische Transformation des gesamten Kontinents Europa in globaler Solidarität. Das Ziel besteht darin, einen gemeinsamen Verständigungsprozess zwischen den unterzeichnenden Organisationen, Initiativen und Medienkollektiven darüber anzustoßen, wie wir einerseits zur Stärkung der Solidarität mit dem ukrainischen Widerstand gegen die russische Besatzung beitragen können und zugleich eine Perspektive für einen radikalen sozialökologischen Umbau, letztlich also eine ökosozialistische Perspektive, für den gesamten Kontinent entwickeln können. Diese kontinentale Perspektive ist unabdingbar, um der Offensive nationalliberaler, nationalkonservativer und faschistischer Kräfte entgegenzutreten.

3 Nationale Selbstbestimmung und darüber hinaus

Der kommende Winter wird schwierig für die ukrainische Bevölkerung werden. Die Flug- und Raketenabwehr ist löchrig, weil die NATO-Länder die erforderlichen Abwehrwaffen nicht bereitstellen. Eine Studie kommt zum Schluss, dass bereits 80% der ukrainischen Strom- und Wasserversorgung ausgefallen seien. Das Putin-Regime will die Bevölkerung zermürben. Gelingt es ihm, im kommenden Winter durch die Bombardierung der Strom- und Fernwärmenetze der Ukraine Millionenstädte wie Charkiw und Dnipro teilweise unbewohnbar zu machen und damit große Fluchtbewegungen auszulösen, kann es die Verteidigungsbereitschaft der Ukraine entscheidend schwächen.[10]

Die Putin-Diktatur verfolgt in diesem Krieg nicht territoriale Ziele, sondern stellt die Unabhängigkeit der Ukraine in Frage und negiert sogar die Existenz einer ukrainischen Nation. In der Erklärung »Ukraine: A People’s Peace, not an Imperial Peace« benennen wir diesen Sachverhalt.

„Die Exponenten des Putin-Regimes erklären regelmäßig, dass sie eine unabhängige Ukraine nicht anerkennen und die Existenz des ukrainischen Volkes leugnen. Das Putin-Regime verfolgt ein großrussisches Projekt, unterjocht die Menschen in den besetzten Gebieten mit Terror und zielt darauf ab, die ukrainische Kultur auszurotten. Das herrschende Regime in Russland begeht regelmäßig Kriegsverbrechen an der ukrainischen Bevölkerung.“

Darum ist es unmittelbar dringend, dass die ukrainische Bevölkerung in ihrem Recht auf Schutz vor dem alltäglichen Bomben- und Raketenterror durch die Putin-Truppen zu unterstützen ist. Das heißt, dass  jene Mächte, also die Staaten Europas und Nordamerikas, die über entsprechend wirksame Waffen verfügen, diese der Ukraine liefern müssen. Wer sagt, die Ukraine habe das Recht auf Selbstverteidigung, ihr aber die erforderlichen Waffen nicht liefern will, handelt inkonsistent. In diesem Sinne ist die Erklärung auch eine Fortsetzung der gemeinsamen Stellungnahme, die ich mit russischen, ukrainischen, deutschen, österreichischen und schweizerischen Genoss:innen im August 2022 publiziert habe.[11]

Wir bekräftigen im dritten Punkt damit eine grundsätzliche Position:

„Wir widersetzen uns den Versuchen „westlicher“ Regierungen, von NATO- und EU-Exponent:innen, die Ukraine zu massiven Zugeständnissen an die russische Besatzungsmacht zu drängen. Wir wenden uns gegen die Vorstellung, dass die Ukraine mehrere Millionen Menschen an das Putin-Regime abtreten muss. Es ist einzig und allein Sache des ukrainischen Volkes, zu entscheiden, wie es dieser grausamen Situation der andauernden und möglicherweise zunehmenden Besatzung begegnen will. Wir unterstützen den bewaffneten und unbewaffneten Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen die russische Besatzungsmacht.“

Es ist offensichtlich, dass nur mit der Durchsetzung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung für die ukrainische Bevölkerung ein Frieden möglich ist. Das heißt, die russischen Truppen müssen das Territorium der Ukraine verlassen. Erst dann können sich Wege eröffnen, die es ermöglichen, dass die Ukrainer:innen in den verschiedenen Landesteilen einschließlich der Vertriebenen einen demokratischen Prozess beginnen, der potentiell nationale Selbstbestimmung einschließlich unterschiedlicher Optionen regionaler Autonomie ermöglicht.

Im einleitenden Teil der Erklärung stellen wir den russischen Krieg gegen die Ukraine in einen größeren Zusammenhang.

„Besatzung ist ein Verbrechen! Wir lassen uns von den Prinzipien der Selbstbefreiung, Emanzipation und Selbstbestimmung der arbeitenden Klassen und aller unterdrückten Völker jenseits geopolitischer Überlegungen leiten. In diesem Sinne sind wir auch solidarisch mit der palästinensischen Bevölkerung, die seit Jahrzehnten für ihre Selbstbestimmung kämpft. Ebenso unterstützen wir die kurdischen und armenischen Bevölkerungen und alle anderen Bevölkerungen, die von Besatzung, nationaler und kultureller Unterdrückung bedroht sind.“

Aus emanzipatorischer Perspektive ist es unabdingbar, klar Position zu ergreifen für die Bedrohten, Ausgebeuteten und Unterdrückten, und zwar komplett unabhängig von geopolitischen Konstellationen und den Projekten der imperialistischen Mächte.

Der russische Staat hat seinen aus der Zarenherrschaft geerbten kolonialen Charakter nicht abgelegt. Der israelische Staat verweigert der palästinensischen Bevölkerung seit Jahrzehnten die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Marokko hat sich die Westsahara gegen den Willen der sahrauischen Bevölkerung angeeignet. Der kurdischen Bevölkerung wird dieses Recht von der Türkei, Syrien, Irak und Iran verweigert. Der chinesische Staat unterdrückt die uigurische Bevölkerung und droht der taiwanesischen Bevölkerung, ihr die seit Jahrzehnten gelebte Unabhängigkeit zu entreißen. In welcher staatlichen und institutionellen Form sich die nationale Selbstbestimmung verwirklichen kann, muss dem demokratischen Aushandlungsprozess der betroffenen Bevölkerungen vorbehalten bleiben.

Doch auch die Regierungen Europas und der USA und die großen Konzerne bedrohen die ukrainische Selbstbestimmung. Im zehnten Punkt stellt sich die Erklärung gegen deren neoliberalen und neokolonialen Vorhaben.

„Wir wenden uns gegen alle Projekte der europäischen und nordamerikanischen Regierungen sowie internationaler Organisationen, die dem ukrainischen Volk eine neoliberale Wirtschaftsagenda aufzwingen wollen. Dies würde Armut und Leid verlängern und vertiefen. Wir verurteilen alle Bestrebungen, das Eigentum und Vermögen der ukrainischen Bevölkerung an ausländische Konzerne zu veräußern. Der Wiederaufbau und die Reorganisation der Landwirtschaft, der Industrie, der Energiesysteme und der gesamten sozialen Infrastruktur müssen der sozialökologischen Transformation der Ukraine dienen, nicht der Lieferung von billigen Arbeitskräften, Getreide und Wasserstoff an westeuropäische Länder.“

Im Falle der Ukraine wird jedoch zunehmend klarer, dass angesichts des menschlichen Blutzolls, der gesellschaftlichen Verwundungen und Zerstörungen sowie der wirtschaftlichen Abhängigkeit des Landes, ein solcher Selbstbestimmungsprozess nur im Rahmen einer demokratischen solidarischen und ökologischen Umgestaltung des Kontinents verwirklicht werden kann. Der nationale Rahmen ist also mit einer transnationalen Perspektive zu verbinden und letztlich zu überwinden.

4 Sicherheit durch Aufrüstung?

Die herrschenden Kräfte in Europa und Nordamerika nehmen den russischen Krieg gegen die ukrainische Bevölkerung zum Vorwand, um bereits früher vorbereitete umfangreiche Aufrüstungsprogramme politisch durchzusetzen. Zugleich weigern sich die westlichen Regierungen, die Ukraine mit modernen und wirksamen Waffen zu ihrer Verteidigung auszustatten. Sie zwingen die Ukraine sich mit angezogener Handbremse zu verteidigen, nahezu ohne eigene Luftwaffe. Erst seit wenigen Wochen darf die ukrainische Armee mit modernen Waffen aus dem „Westen“ russisches Territorium in wenigen, klar definierten Zonen zum Schutze der eigenen Bevölkerung beschießen. Das heißt, noch immer können die russische Artillerie und Bomber an vielen Orten ukrainische Städte bombardieren, ohne fürchten zu müssen, von den Verteidigern unter Beschuss genommen zu werden. Auf diese Weise schwächen die westlichen Mächte die Ukraine und ziehen den Krieg in die Länge. Sie wollen keinen Sieg der Ukraine.

Eine besondere Aufmerksamkeit verdient, wie sich die Regierungen wiederholt stärkeren Wirtschaftssanktionen entgegenstellt haben. Besonders das deutsche Kapital verfügt immer noch über umfassende Vermögensbestände in Russland. Die Unternehmen in zahlreichen Ländern Europas – toleriert oder sogar unterstützt – von ihren Regierungen, umgehen systematisch die Wirtschaftssanktionen gegen Russland und betreiben weiterhin lukrative Geschäfte mit den russischen Partnern, auf Kosten der russischen Arbeiter:innenklasse, der ukrainischen Bevölkerung und zugunsten der Kriegskasse Putins. Sie liefern auf diese Weise Russland weiterhin Güter, die es zur Waffenproduktion einsetzt.[12]

Die USA und die europäischen Regierungen könnten der Ukraine die Mittel zu ihrer Verteidigung liefern und Russland die Versorgung mit Rüstungsgütern massiv behindern, wenn sie wollten. Sie verfügen über genügend moderne und wirksame Abwehrwaffen wie die Patriot-Systeme und Flugzeuge, aber sie liefern diese nicht oder nur sehr ungenügend. Die USA hatten bis vom 24. Februar 2022 bis 24. Mai 2024 neben mehreren Avenger-Luftabwehrsystemen kurzer Reichweite nur gerade mal ein Patriot-System geliefert.[13] Im Juni kündigten die USA die Lieferung eines zweiten Systems an (das bislang noch geliefert wurde).[14] Deutschland und die Niederlande hatten zusammen bislang ein Patriot-System geliefert. Deutschland lieferte seither zwei weitere[15]. Vermutlich verfügt die Ukraine also über vier Patriot-Systeme, was nicht ansatzweise reicht, um die Städte zu schützen. Die Länder der NATO besitzen fast 3300 Jagdflugzeuge, viermal so viele wie Russland. Die wenigen Dutzend zur Diskussion stehenden, aber nicht gelieferten F/A-16 sind rund 40 Jahre alt und werden ohnehin ersetzt. Die NATO-Staaten könnten ohne Sicherheitseinbußen die erforderliche Zahl von 100 bis 200 Flugzeugen liefern.[16] Konsequentes Handeln zugunsten der ukrainischen Verteidigung wäre möglich, ohne eine gigantische Aufrüstungswelle loszutreten.

Darum schreiben wir in der Erklärung „A People’s Peace not an Imperial Peace“, dass eine wirksame militärische Unterstützung der Ukraine keineswegs eine neue Welle der Aufrüstung erfordert. Vielmehr gilt es, die lukrativen und profitablen Waffenexporte für Länder wie Saudi-Arabien, Ägypten, Türkei und Israel zu stoppen. Diese Regimes terrorisieren mit diesen Waffen ihre Nachbarvölker und ihre eigene Bevölkerung. Die Ukraine hingegen verteidigt sich in aller Not, erhält aber die erforderliche Hilfe nicht, bzw. nur eingeschränkt und an nachteilige Bedingungen geknüpft. Wir lehnen also die Aufrüstungsprogramme der NATO und Waffenexporte in Drittländer ab.

Stattdessen müssen die Staaten Europas und Nordamerikas aus ihren bestehenden riesigen Arsenalen die Waffen bereitstellen, die der Ukraine helfen, sich wirksam zu verteidigen. In diesem Sinne fordern wir, dass die Rüstungsindustrie nicht den Profitinteressen des Kapitals dienen darf – im Gegenteil, wir wollen auf die soziale Aneignung und demokratische Kontrolle der Rüstungsindustrie hinarbeiten. Diese Industrie muss kurzfristig den Interessen der Ukraine dienen. Eine gezielte Steigerung der Produktion spezifischer Waffen ist möglich, ohne eine allgemeine Aufrüstungswelle mit der damit einhergehenden ideologischen Kampagne auszulösen. Zudem müssen die EU- und NATO-Staaten endlich aufhören, Russland weiterhin waffenfähige Komponenten zu liefern und zu dessen Kriegsfinanzierung durch den Bezug fossiler Treibstoffe und angereicherten Urans beitragen.[17]

Gleichzeitig unterstreichen wir aus sozialen und dringenden ökologischen Gründen die Notwendigkeit einer demokratischen Konversion der Rüstungsindustrie in eine gesellschaftlich nützliche Produktion im globalen Maßstab. Diese grundsätzliche Orientierung dürfen wir nie aus den Augen verlieren. Es lässt sich nicht leugnen, dass wir da vor einem Dilemma stehen. Wir sind nicht mehr in der Situation, wo es nur ausschließlich gute und saubere Lösungen gibt. Wahrscheinlich werden derartige Situationen zunehmen: Die Erderhitzung beschleunigt sich, die imperialistische Rivalität verschärft sich, lokale Revolten erhalten Unterstützung von zweifelhaften Kräften.

Aber genau darum ist es wirklich entscheidend, dass emanzipatorische Kräfte und Bewegungen transnational, kontinental und schließlich global zusammenzuarbeiten, sowohl programmatisch als auch strategisch und ganz praktisch aktivistisch in konkreten Kampagnen. Die transnationale Solidarität und Zusammenarbeit von unten, jenseits und gegen alle geopolitischen Erwägungen und Bündnis ist die einzige Rückversicherung eine Anpassung an und Unterordnung unter Herrschaftsstrategien.

Die Kriegsführung des Putin-Regimes stellt emanzipatorische Kräfte vor grundsätzliche Fragen, vor denen sie sich bislang gedrückt haben. Wie kann man einer Diktatur entgegentreten, die einen offen deklarierten Expansionskurs und einen allgemeinen Terror gegen die eigene Bevölkerung verfolgt und den Krieg ohne jegliche Rücksicht auf menschliche Verluste bei den eigenen Truppen führt? Das ist eine besondere Herausforderung. Die französischen Truppen haben in Algerien versucht die eigenen Verluste klein zu halten. Für die USA waren die eigenen Verluste in Vietnam, die schließlich auf 56 000 tote Soldaten anstiegen, ein riesiges Problem. Auch für die sowjetischen Truppen wurden die eigenen Verluste in Afghanistan schließlich so hoch, dass sie den Rückzug antreten mussten, obwohl diese viel geringer waren als für Russland gegenwärtig in der Ukraine. Die US-Armee musste in den Jahren nach der Invasion des Irak 2003 das Land schließlich verlassen, was dem Iran in die Hände spielte. Die israelische Armee achtet wie keine andere darauf, eigene Verluste zu minimieren, massakriert dafür umso ungehemmter die palästinensische Bevölkerung.

Die russische Kriegsführung sieht komplett anders aus. Putin presst seine Truppen buchstäblich durch den Fleischwolf ohne Rücksicht auf Verluste. Soldaten, viele stammen aus peripheren Gebieten, sind Angehörige unterdrückter Nationalitäten oder werden sogar im Ausland mit falschen Versprechen angeworben[18], werden eigesetzt, um das knappe Material zu schonen, nicht umgekehrt. Solange das Regime aufgrund der militärischen Kräfteverhältnisse oder einem Aufstand im eigenen Land nicht zur Einschätzung gelangt, dass ein Waffenstillstand mit einem teilweisen Rückzug dem Machterhalt dienlicher ist als die Fortsetzung des Krieges, wird es den Krieg fortsetzen. Da aber das Putin-Regime umgekehrt, mit einem als Patt oder gar Niederlage gewerteten Kriegsausgang nicht überleben würde, wird es den Krieg fortsetzen. Es hat die ganze Wirtschaft und Gesellschaft auf einen langen Krieg ausgerichtet. Darum sieht sich die Ukraine leider gezwungen, den Verteidigungskrieg so lange zu führen, bis Putin sich auf einen Verhandlungsprozess einlässt.

Jahrzehnte stalinistisch-bürokratischer Diktatur, eine chaotische kapitalistische Landnahme und Erschließung in den 1990er Jahren und zwei Jahrzehnte Putin-Regime, das sich unterdessen zu einer dem Faschismus ähnlichen Diktatur gewandelt hat, haben offensichtlich die Gesellschaft ausgelaugt, atomisiert und jedes kollektive Selbstbewusstsein verkümmern lassen. Darum hatte die Antikriegsbewegung in Russland bislang keine Chance. Die Diktatur hat den demokratischen Widerstand zerstört. Die Gesellschaft sieht sich machtlos der Willkür ausgeliefert. Was bedeutet das für den Widerstand gegen derartige Angriffs- und Besatzungstruppen? Was bedeutet das für unsere grundsätzliche antimilitaristische Orientierung? Wir stehen also vor Fragen, die jenen ähnlich sind, die sich dem antifaschistischen Widerstand vor und während des Zweiten Weltkriegs stellten.

5 Vielfachkrise und Orientierungskrise

Sowohl die Interessensvertreter:innen des Kapitals und seiner unterschiedlichen Fraktionen, als auch der intellektuellen und kulturellen Elite sowie das linke Spektrum im breiten Sinne des Wortes befinden sich in einer tiefen und umfassenden Orientierungskrise. Das bringen auch die jüngsten Wahlen für das Europäische Parlament und der autoritäre Kurs des französischen Präsidenten Macron zum Ausdruck. Es ist offensichtlich, dass die Liberalen in allen ihren Schattierungen, einschließlich ihrer sozialdemokratischen und grünen Varianten, auf keine einzige Herausforderung nur annähernd glaubwürdige Antworten anzubieten haben. Es scheint als gäbe es keine umfassenden gesellschaftlichen Projekte mehr, die zumindest den Anspruch haben, auf die großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu antworten.

Verschiedene Entwicklungen verstärken sich gegenseitig zu einer gefährlichen Gemengelage. Ich verdichte diese hier auf zwölf Prozesse.

  1. Die Putin-Diktatur wird ihren Krieg gegen die ukrainische Bevölkerung, ihre Repression gegen die eigene Arbeiterinnenklasse und gegen die durch den russischen Staat unterdrückten Nationalitäten bis zu ihrem Sturz weitertreiben.
  2. Die westlichen Regierungen agieren inkonsequent und widersprüchlich gegenüber der russischen Offensive. Sie zielen nicht in erster Linie auf die Verteidigung der ukrainischen Bevölkerung, sondern lassen sich von den eigenen wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen leiten, was niemanden überraschen sollte.
  3. Die sich verschärfende imperialistische Rivalität zwischen der weiterhin stärksten imperialistischen Macht USA, die aber an Einfluss verliert, und dem aufstrebenden chinesischen Imperialismus drückt vielen Konflikten auf der Welt ihren Stempel auf, was zahlreiche Beobachter von rechts bis links dazu verleitet, die inneren gesellschaftlichen Widersprüche und Klassenkämpfe nur noch in Ableitung der „großen Geopolitik“ zu interpretieren. Die „linken“ Varianten dieser Erklärungsversuche nähern sich damit den herrschaftskonformen Betrachtungen an.
  4. Seit der großen Finanz- und Wirtschaftskrise 2007ff kommt die kapitalistische Ökonomie nicht aus der anhaltenden Profit- und Akkumulationskrise heraus. Zahlreiche Sektoren der Wirtschaft zeigen unbefriedigende Profitraten und Nachfragebedingungen. Nichts deutet auf eine neue umfangreiche Investitionswelle und anhaltende Wachstumsphase hin. In dieser Situation treiben die fossilen Sektoren der Wirtschaft mit ihren attraktiven Profiterwartungen ihre Gegenoffensive voran. Das in den großen Fonds konzentrierte Finanzkapital verleiht dieser Tendenz finanzielle Schubkraft. Ein grüner Kapitalismus ist unmöglich.[19]
  5. Die kapitalistischen Gesellschaften sind nicht nur von einer Krise der Produktion (Überakkumulation, periodische Überproduktion bei gleichzeitigem Mangel wichtiger Güter und Dienstleistungen, Verschleißproduktion, ökologische Zerstörung), sondern auch der Reproduktion gekennzeichnet. Die reproduktiven Tätigkeiten sind weiterhin patriarchal organisiert. verwehrt vielen Menschen den Zugang zu Diensten, die Teil einer umfassenden gesellschaftlichen Infrastruktur sein sollten.
  6. Die liberale Anerkennung von Diversität hat den in der kapitalistischen Produktionsweise eingeschriebenen Rassismus nicht überwunden. Im Zuge der verschärften Krisen und der Krieg erleben wir ein Aufflammen rassistischer Diskurse und Praktiken.
  7. Große Teile der wirtschaftlichen und politischen Eliten erkennen in dieser von Dilemmata gekennzeichneten Situation keine andere Perspektive als auf Sicht zu navigieren und alles zu tun, um ihre Macht zu erhalten.
  8. Die Arbeiter:innenbewegung in Europa und Nordamerika vermochte es bislang nicht ihre Schwäche, unter der sie seit den in den späten 1970er und 1980er Jahren eingesteckten Niederlagen leidet, zu überwinden.
  9. Andere soziale Bewegungen und zuletzt die Klimabewegung konnten diese Schwäche nicht kompensieren. Im Gegenteil, sie müssen ihre mangelnde Durchsetzungsfähigkeit und strategische Schwäche akzeptieren. Wiederholt haben ganze Generationen, die sich im Aufbruch wähnten, ihre Machtlosigkeit erfahren.
  10. Weite Teile der klassischen Linken haben sich an die bestehende Ordnung angepasst und sich ihr unterordnet (siehe nächsten Abschnitt). Sie fallen als Motoren emanzipatorischer Veränderungen aus. Die antikapitalistischen Kräfte in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit haben es weder geschafft, gesellschaftliche Glaubwürdigkeit zu erlangen noch eine konsistente strategische Hypothese der antikapitalistischen Transformation zu entwickeln.
  11. Auf diese tendenziell chaotische und fragmentierende Entwicklung suchen nun Teile der herrschenden Klasse – auch bislang (sozial-) und (grün-)liberaler Strömungen – ihre Antwort in zunehmend autoritäreren Regierungsformen. Teile der verunsicherter tendenziell und relativ privilegierter Schichten der lohnabhängigen Klassen, kleinbürgerliche Kräfte, aber auch Teile der klassischen Arbeiter:innenklasse hoffen ihre Stellung zu halten, indem sie Nationalkonservative und Faschist:innen wählen.
  12. In dieser seit längerer Zeit andauernden Situation gewinnen nationalpopulistische, nationalkonservative und faschistische Kräfte an Einfluss. Das Putin-Regime ist die Sperrspitze dieser Bewegung und treibt sie auf internationaler Ebene voran. In mehreren Ländern und Regionen Europas drängen sie an die Regierung. Ein Wahlsieg von Trump und Vance könnte eine qualitative Wende zu ihren Gunsten einleiten. Diesen Strömungen ist gemeinsam, dass sie sowohl die mit der Strukturierung in gesellschaftliche Klassen verbundene Ungleichheit, als auch die ökologischen Herausforderungen entweder leugnen, relativieren oder als zwangsläufig und unabwendbar akzeptieren und daher für eine Verteidigung der Privilegien der „Weißen“, „Russen“, „Europäer“ gegen den Rest der Menschheit einstehen. In zahlreichen Ländern vollzieht sich eine breite Bevölkerungsschichten erfassende Popularisierung und gleichzeitig Banalisierung faschistischer Anschauungen. Die Projekte nationalkonservativer und faschistischer Kräfte werden zunehmend klarer: Kontinuität der fossilen Wirtschaft, Verallgemeinerung wirtschaftlicher Konkurrenz, selektive Abschottung, rassistische Ausgrenzung, patriarchaler Backlash, autoritäres Regime, technologischer Solutionismus.

Vor dem Hintergrund dieser Tendenzen führt uns der Krieg der Putin-Diktatur, dessen Unterstützung durch faschistische und nationalkonservative Kräfte und dessen Tolerierung durch degenerierte Linke, in eine komplizierte Situation.

6 Gemeinsame Vision für die Gesellschaften Europas

Die Organisationen und Strömungen der klassischen Arbeiterbewegung, also vor allem die Sozialdemokratie und die verschiedenen Nachfolgeprojekte der Kommunistischen Parteien, bleiben in den Schemata der vergangenen Zeit gefangen. Erstens hängen sie an einer unrealistischen und überkommenen Vorstellung gradueller Modernisierung oder Veränderung der kapitalistischen Produktionsweise an. Zweitens halten sie an einem produktivistischen Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung fest, was in einen zwingenden Konflikt mit den ökologischen und erdsystemaren Prozessen gerät. Drittens sehen sie durch eine geopolitische („campistische“) Brille auf die Konflikte der Welt. Sei es, dass sie sich einseitig auf die Seite der nordatlantischen „demokratischen Wertegemeinschaft“ stellen oder einer multipolaren Weltordnung das Wort reden und damit reaktionäre Diktaturen zumindest akzeptieren oder aufgrund deren antiwestlicher Orientierung sogar unterstützen. Die grünen Parteien haben sich zu liberalen Parteien gewandelt, die das Herrschaftssystem vollumfänglich mittragen.

Zugleich müssen wir feststellen, dass jede auch noch so bescheidene Wende zu einer sozialökologischen Transformation, einem Green New Deal oder auch bloß bescheidenen Reformen gegen die fossile Industrie eine Illusion sind.[20] Im Gegenteil, wir erleben seit drei Jahren in zahlreichen Ländern der Welt, vor allem aber in Europa einen regelrechten fossilen Backlash. Die großen fossilen Konzerne sind wieder zuversichtlicher und steigern ihre Investitionen.[21]

In dieser düsteren Situation ist es dringend erforderlich, dass jene Kräfte, die auf eine umfassende ökosozialistische Umwälzung von unten und auf Selbstorganisierung setzen, die sich jenseits aller geopolitischen Konflikte und Frontbildungen immer und überall auf die Seite der Unterdrückten und Ausgebeuteten stellen, einen Dialog auf kontinentaler Ebene eröffnen. Dabei geht es nicht um eine europäische Lösung in Abgrenzung zu anderen Teilen der Welt, im Gegenteil: es geht um eine ökosozialistische Perspektive in umfassender globaler Solidarität.

Wir brauchen dringend eine gemeinsame Vision und Vorstellung davon, wie wir die Gesellschaften auf dem gesamten Kontinent Europa organisieren wollen. Es gilt eine Debatte über eine radikale Umgestaltung Europas anzustoßen. In der Erklärung bekennen wir, dass wir dazu beitragen wollen, eine gemeinsame europäische Perspektive für radikale sozialökologische Reformen und letztlich für eine grundlegende ökosozialistische Umwälzung des gesamten europäischen Kontinents in globaler Solidarität zu entwickeln. In diesem Rahmen bekräftigen wir das Recht der ukrainischen Bevölkerung, sich der EU anzuschließen, wenn sie das demokratisch in einer Volksabstimmung oder durch Wahlen so entscheidet.

Das mag paradox erscheinen. Denn selbstverständlich lehnen wir in der Erklärung die neoliberalen Fundamente der EU und ab und widersetzen uns auch allen Bestrebungen einen EU-Imperialismus zu formieren, ohne den Widerstand gegen die klassischen nationalen Imperialismen aufzugeben. Die EU-Politik lässt Millionen von Menschen verarmen und verschärft die ungleiche Entwicklung in Europa. Jede konsequente sozialökologische Reform gerät zwangsläufig in unmittelbaren Widerspruch zu den neoliberalen Grundfesten der EU. Es geht also weniger um die Reformierung der EU als um eine kontinentale Strategie, die es erlaubt die Gesellschaft von unten zu verbinden. Die Gesellschaften des Kontinents umfassen mehr als nur die EU. Die bei weitem größte Stadt in Europa und die potenziell wichtigste im Klassenkampf ist Istanbul.

Im 12. Punkt der Erklärung steht:

„Wir nehmen die Perspektive eines Beitritts mehrerer Länder Osteuropas und Südosteuropas zum Anlass, um gemeinsam darüber nachzudenken, wie ein solcher radikaler sozialökologischer Wandel in ganz Europa eingeleitet werden kann. Dazu gehören eine gemeinsame Energiestrategie, ein ökologischer Industrieumbau, umlagefinanzierte Rentensysteme, ein wirksamer Arbeitsschutz, eine solidarische Migrationspolitik, interregionale Transferzahlungen und militärische Sicherheit sowie die Konversion der Rüstungsindustrie. Gewerkschaftliche, feministische, ökologische, anti-autoritäre linke und sozialistische Kräfte in Osteuropa sollten in dieser Debatte eine wichtige Rolle spielen.“

Allerdings ist offensichtlich, dass eine derartige ökosozialistische und antiimperialistische Orientierung mit den Fundamenten der EU brechen muss. Wir brechen aber nicht, indem wir andere Gesellschaften ausschließen. Wir brechen nur gemeinsam auf dem ganzen Kontinent, und zwar in einem Verständnis globaler Solidarität. Der Unabhängigkeitskampf der Ukrainer:innen und unser Einsatz für einen selbstbestimmten, demokratischen sozialökologischen Wiederaufbau des Landes sind ein wesentlicher Bestandteil dieser kontinentalen und global solidarischen Perspektive. Wir schließen unsere Erklärung also mit einem Plädoyer für eine radikale sozialökologische Übergangsstrategie ab. Diese Strategie soll dazu beitragen, eine Dynamik eines eigentlich revolutionären ökosozialistischen Bruchs und Umbruch voranzutreiben.

Das faschistoide Putin-Regime will gemäß seiner Energiestrategie 2035[22] die Öl- und Gasförderung in den kommenden Jahrzehnten fortsetzen und sogar ausweiten. Nach dem Sturz dieses Regimes durch die russische Bevölkerung und die unterdrückten Völker werden Russland und seine Nachbarländer die Unterstützung der anderen Gesellschaften Europas benötigen.

Die westlichen Regierungen und Kapitalgruppen haben im Rahmen der Ukraine Recovery Conference Mitte Juni in Berlin angedeutet, dass sie die Ukraine zu einer Zone billiger Arbeitskräfte, einfacher Rohstoffplünderung und günstiger Energieerzeugung machen wollen.[23] Das ist weit entfernt von einem selbstbestimmten Wiederaufbau. Soll die Ukraine zum Ort günstiger Agrartreibstoffe und Wasserstoffs degradiert werden, damit die deutschen und westeuropäischen Konzerne ihre neokoloniale „grüne“ Energiewende realisieren können?

Auf diese Vorhaben müssen wir mit eigenen Vorstellungen und Konzepten einer solidarischen und ökologisch nachhaltigen Energieversorgung im kontinentalen Maßstab reagieren. Die demokratische gesellschaftliche Aneignung des Energiesektors ist eine wichtige Voraussetzung, um eine umfassende Entfossilisierung europaweit und global solidarisch überhaupt durchzusetzen.[24]

Ich bin überzeugt, dass wir nur mit einer gemeinsamen Vision eines solidarischen und ökologischen Europas, also letztlich eines ökosozialistischen Bruchs und Umbruchs in der Lage sein werden, der Offensive der Nationalkonservativen, der Faschisten, einer Radikalisierung neoliberaler Austerität und dem fossilen Backlash wirksam entgegenzutreten. Schaffen wir es, einen gemeinsamen revolutionären Prozess in Gang zu setzen oder gleiten wir in die Barbarei ab?

Nun geht es darum zu überlegen, wie wir die Kräfte, die für eine derartige Umgestaltung des gesamten Kontinents einstehen, in einen gemeinsamen Prozess des Erfahrungsaustauschs, des gemeinsamen Lernen und gemeinsamen Handelns bringen. Wir brauchen eine transnationale und kontinentale Konvergenz. Lasst uns die Diskussionen beginnen, wie wir diesen Prozess vorantreiben können.

Literatur & Referenzen

Bildquelle: Foto von Daniele Franchi auf Unsplash

[1] A People’s Peace not an Imperial Peace, 6. Juni. emanzipation. https://emanzipation.org/2024/06/a-peoples-peace-not-an-imperial-peace/ Deutsch: emanzipation, 7. Juni 2024 https://emanzipation.org/2024/06/ein-frieden-der-bevoelkerungen-kein-imperialer-frieden/

[2] President of Russia Vladimir Putin’s speech at the meeting with senior staff of the Russian Foreign Ministry, Moscow, June 14, 2024 https://mid.ru/en/foreign_policy/news/1957107/

[3] Simon Pirani: Russian terror in occupied areas of Ukraine: homes confiscated en masse. People and Nature, , 9 July 2024 https://peopleandnature.wordpress.com/2024/07/09/russian-terror-in-occupied-areas-of-ukraine-homes-confiscated-en-masse/

[4] Alexey Kovalev: Ju Russia’s Invasion of Ukraine is an Ultraviolent Settler-Colonial Project. July 1, 2024 https://medium.com/@alexey__kovalev/russias-invasion-of-ukraine-is-an-ultraviolent-settler-colonial-project-a2f3c1ff5873

[5] Killing, Alison and Miller, Christopher: FT investigation finds Ukrainian children on Russian adoption sites. Financial Times, June 12, 2024 https://www.ft.com/content/2d0013d2-a407-449f-b1e2-3d14fe65188f

[6] New York Times, 2 June 2024 https://www.nytimes.com/2024/06/02/world/europe/ukraine-children-russia-war.html

[7] United Nations (1951) Treaty Series Volume 78( I. Nos. 1008-102) No. 1021. Convention the the prevention and punishment of the crime of genocide. Adopted by the General Assembly of the United Nations on 9 December 1948, p. 280. https://treaties.un.org/doc/Publication/UNTS/Volume%2078/v78.pdf

[8] Bahr, Egon (1981): Überleben mit und in den Bündnissen. Es gibt eine Pflicht zur internationalen Solidarität des Friedens. Vorwärts, 24.12.1981, S 1. Vergleiche auch: Bingener, Reinhard und Wehner, Markus (2023): Die Moskau-Connection. Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit. München: C. H. Beck, S. 63

[9] Budraitskis, Ilya (2022): Putinismus: Eine neue Form von Faschismus. emanzipation 6 (2), S. 79-93. https://emanzipation.org/2022/11/putinismus-eine-neue-form-von-faschismus

[10] Gressel, Gustav und Welsch, Marcus (2024): Russlands Raketenkrieg gegen ukrainische Zivilisten, 12. Juli 2024, ERIC European Resilience Initiative Center: Berlin, 13 S. https://european-resilience.org/sites/default/files/inline/images/russlands_raketenkrieg_gegen_ukrainische_zivilisten.pdf.

[11] Budraitskis, Ilya; Dutchak, Oksana; Etzbach, Harald; Gehrke, Bernd ; Gelinsky, Eva; Hürtgen, Renate; Zbigniew, Marcin Kowalewski; Lomonosova, Natalia; Perekhoda, Hanna; Pilash, Denys; Popovych, Zakhar; Schmid, Philipp:; Wälz, Christoph; Wielgosz, Przemyslaw; Zeller, Christian (2022): Ukrainischen Widerstand unterstützen und fossiles Kapital entmachten. Emanzipation 6 (2), S. 107-122. https://emanzipation.org/wp-content/uploads/2024/01/Gruppe15_2022_ukrainischen_Widerstand_unterstuetzen_emanzipation_6-2.pdf.

Zeller, Christian (2022): Besatzung akzeptieren um Krieg zu beenden? Emanzipation 6 (2), S. 123–134. https://emanzipation.org/wp-content/uploads/2024/01/Zeller_2022_Besatzung_akzeptieren_um_Krieg_zu_beenden_emanzipation_6-2.pdf

[12] Siehe hierzu: Christian Zeller: Dunkle Energie: Europas fossile Finanzierung von Putins Krieg. 25. Juli 2024 emanzipation

[13]  Michael E. O’Hanlon, Constanze Stelzenmüller, and David Wessel. Ukraine Index: Tracking developments in the Ukraine war. Brookings Research, July 17, 2024. https://www.brookings.edu/articles/ukraine-index-tracking-developments-in-the-ukraine-war/

[14]Jesua Mesa: How Many Patriot Systems Does Ukraine Have? Newsweek, June 12, 2024 https://www.newsweek.com/ukraine-patriot-missile-system-how-many-1912037

[15] Bundesregierung, 8. Juli 2024. Diese Waffen und militärische Ausrüstung liefert Deutschland an die Ukraine https://www.bundesregierung.de/breg-de/schwerpunkte/krieg-in-der-ukraine/lieferungen-ukraine-2054514

Zeit online: Selenskyj: Drittes deutsches Patriot-System ist da. 21. Juli 2024 https://www.zeit.de/news/2024-07/21/selenskyj-drittes-deutsches-patriot-system-ist-da

[16] Gressel, Gustav und Welsch, Marcus (2024): Russlands Raketenkrieg gegen ukrainische Zivilisten, 12. Juli 2024, ERIC European Resilience Initiative Center: Berlin, 13 S. https://european-resilience.org/sites/default/files/inline/images/russlands_raketenkrieg_gegen_ukrainische_zivilisten.pdf.

[17] Siehe hierzu: Christian Zeller: Dunkle Energie: Europas fossile Finanzierung von Putins Krieg. 25. Juli 2024 emanzipation

[18] Hannah Ellis-Petersen and Aakash Hassan in Delhi and Gaurav Pokharel: ‘He had no idea he was being sent to a war zone’: the Indian and Nepali men on frontlines in Ukraine. The Guardian 7 March 2024: https://www.theguardian.com/world/2024/mar/07/he-had-no-idea-he-was-being-sent-to-a-war-zone-the-indian-and-nepalese-men-on-frontlines-in-ukraine

[19] Zeller, Christian (2023): Fossile Gegenoffensive – Grüner Kapitalismus ist nicht in Sicht. emanzipation – Zeitschrift für ökosozialistische Strategie 7 (2), S. 221-252. https://emanzipation.org/2023/08/fossile-gegenoffensive-gruener-kapitalismus-ist-nicht-in-sicht/

[20] Zeller, Christian (2021): Green New Deal als Quadratur des Kreises. PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 51 (1 (202)), S. 31-51. https://www.prokla.de/index.php/PROKLA/article/view/1932.

Zeller, Christian (2023): Ökosozialistische Strategie statt Green New Deal In: J. B. Foster; M. Löwy; J. Spear; D. Tanuro und C. Zeller (Hrsg.): Ökosozialismus. Positionen des klassischen Marxismus, Debatten heute. Karlsruhe: Neuer ISP Verlag. S. 91-144.

[21] Zeller, Christian (2023): Fossile Gegenoffensive – Grüner Kapitalismus ist nicht in Sicht. emanzipation – Zeitschrift für ökosozialistische Strategie 7 (2), S. 221-252. https://emanzipation.org/2023/08/fossile-gegenoffensive-gruener-kapitalismus-ist-nicht-in-sicht/.

[22] Götz, Roland (2020): Russlands Energiestrategie bis zum Jahr 2035: Business as usual. Russland-Analysen (386) 27.04.2020, S. 8–12. https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/386/russland-energiestrategie-2035/.

[23] Ukraine Recovery Conference (2024): Conference Results- Ukraine Recovery Conference 11-12 June 2024, Berlin https://www.urc-international.com/conference-materials-urc-2024

[24] Zeller, Christian (2023): Building a continental counter-power against fossil capital. Fight the Fire – Ecosocialist Magazine. 2023/12/29. https://www.fighthefire.net/building-a-continental-counter-power-against-fossil-capital/.