Die Freikorps von morgen

In Russland ist es Rechtsextremen gelungen, den Rücktritt des Vorsit­zen­den des Nationalitätenausschusses der Staatsduma, Gennadij Semigin, zu erwirken. Die Episode zeigt, wie einflussreich die Faschisten inzwischen sind, vor allem im Militär.

Auf den ersten Blick war Gennadij Semigins Rücktritt kaum der Rede wert. Ende Mai wurde der Politiker als Vor­sitzender des Nationalitätenausschusses der Duma abgesetzt – ein wichtiges Amt in der russischen Politik. Semigin ist Co-Vorsitzender der kremltreuen Partei »Gerechtes Russland – Patrioten – Für die Wahrheit« (SR). Sein Rücktritt wurde als eine schon lange geplante Ämterrotation verkauft.

Doch die Vorgeschichte des Vorgangs zeigt, welche politische Bedeutung er besitzt. Semigin hatte zuvor gegen den Soldaten Jewgenij »Topas« Rasskasow vor Gericht prozessiert. Dieser ist ein ehemaliger Kämpfer des berüchtigten, aus Neonazis bestehenden Freiwilligencorps Russitsch, die in der Ukraine als Teil der russischen Armee kämpft.

Viele nationalistische Soldaten sind überzeugt, dass sie sich den Anspruch auf Macht und damit auf Zugang zu den Fleischtöpfen mit ihrem eigenen Blut verdient haben

Im Februar reichte Semigin eine Verleumdungsklage gegen Rasskasow ein. Grund für die Klage war ein Post von Rasskasow auf seinem Telegram-Kanal, in dem er Semigin wegen einer Mitteilung seiner Partei beleidigte. Am 29. September hatte die SR-Website einen Artikel über Adam Kadyrow, den Sohn des tschetschenischen Staatschefs Ramsan Kadyrow veröffentlicht. Der 15jährige Diktatorensprössling hatte sich dabei filmen lassen, wie er in einem Gefängnis in Grosny auf einen wehrlosen 19jährigen einschlug. Es handelte sich um Nikita Schurawel, der im Gefängnis saß, weil er sich dabei gefilmt hatte, wie er vor einer Moschee in Wolgograd einen Koran verbrannt hatte. Er wurde festgenommen und nach Tschetschenien verlegt, wo ihn Kadyrows Sohn vor laufender Kamera verprügelte.

Der SR-Artikel rechtfertigte Adam Kadyrows Taten sehr unverhohlen. »Wenn jeder russische Soldat so kompromisslos für seine Ideale einträte wie der Sohn von Ramsan Achmatowitsch, dann müsste das Achmat-Bataillon vielleicht keine russischen Soldaten mehr auf das Schlachtfeld schubsen«, heiß es. Mit dem »Achmat-Bataillon« sind tschetschenische Einheiten gemeint, die in der Ukraine kämpfen.

Wüste Schimpftirade

Der Artikel verschwand später von der SR-Website; Semigin behauptete, Hacker hätten seine Website manipuliert und den Text im Namen seiner Pressestelle veröffentlicht. Das war offensichtlich eine Ausrede. Rasskasow griff das in seinem Telegram-Kanal auf und lies eine wüste und weitgehend inkohärente Schimpftirade auf ihn los. Er bezeichnete Semigin als »lügenden, russenfeindlichen Wurm« und »albernen Marktbetrüger«, der gegen Geld den »in Auftrag gegebenen Artikel« veröffentlicht habe – woraufhin dieser ihn wegen Verleumdung verklagte.

Rasskasow war im Frühjahr 2022 verwundet worden und zunächst nach Moskau zurückgekehrt. Seitdem hatte er es vorgezogen, im Internet zu kämpfen, und war mit seinem Telegram-Kanal zu einem der sogenannter Militärblogger geworden. Doch Ende März ging er zurück an die Front. Diesmal kehrte er nicht zur Gruppe Russitsch zurück, sondern schloss sich den Reihen der »Es­pa­nola«-Einheit an, die sich aus rechtsextremen Fußball-Hooligans rekrutiert.

Obwohl sein Anwalt argumentierte, der Angeklagte habe aktiv am Krieg teilgenommen, was seine Attacken auf Semigin rechtfertigen würde, verlor Rasskasow den Prozess. Am 15. April fiel das Urteil zugunsten von Semigin, der daraufhin 500.000 Rubel (umgerechnet 5.200 Euro) Entschädigung forderte.

Vor Gericht gewonnen, aber PR-Krieg verloren

Doch Rasskasow gab nicht auf. Unterstützt wurde er insbesondere von rechtsextremen Nationalisten, den sogenannten Z-Patrioten, vor allem in der Armee. Auch Nikita Michalkow, ein berühmter Filmemacher, der für seine konservativen Ansichten bekannt ist, setzte sich für ihn ein. Die Anwälte von Rasskasow erreichten, dass er vom Parteivorsitzenden der SR, Sergej Mironow, empfangen wurde. Dieser empfahl ­Semigin am 6. Mai, die Klage zurückzuziehen. Der einflussreiche Politiker Semigin hatte die Schlacht vor Gericht gewonnen, aber anschließend den PR-Krieg gegen den 29jährigen Gefreiten verloren. Wenige Wochen darauf musste Semigin seinen einflussreichen Posten in der Staatsduma aufgeben.

Semigins Abgang ermutigte Rasskasow. Er kündigte an, sein nächstes Ziel werde ein anderer SR-Politiker sein, der nationalistische Schriftsteller Sachar Prilepin. Im Mai 2023 war dieser bei einem Bombenattentat schwer verletzt worden, zu dem sich die ukrainisch-krimtartarische Partisanengruppe Atesch bekannt hatte. Seitdem war Prilepin kaum noch öffentlich in Erscheinung getreten.

Rasskasow beschuldigte ihn der Untätigkeit und kündigte auf Telegram eine großangelegte Kampagne zur »Säuberung« an: »Russland wird sauberer und ehrlicher werden«, schrieb er. »Dies ist kein Kampf gegen die Autoritären, sondern gegen die Kreaturen, die die Autoritären und das Volk ausbeuten, um ihre Taschen zu füllen. Wenn wir entschlossen sind, zu siegen und das Land zu vereinen, müssen wir das ganze Gesindel einsperren und die Beute konfiszieren und an ihre Stelle Leute setzen, die ihre Treue zum Vaterland mit Blut und Schweiß bewiesen haben.« Weiter schrieb er: »Die Leitung unserer Organisation«, gemeint ist offenbar seine Einheit »Espanola«, »besteht aus Leuten, die ihre Tapferkeit und Loyalität bereits mit ihrem eigenen Blut bewiesen haben.« Dann fragte er: »Denken Sie nicht, dass dies ein perfektes Vorbild für die Besetzung der Regierungsor­gane in Russland ist?«

Rasskasows Rhetorik erinnert an den gängigen Rechtspopulismus, der in etlichen Ländern erstarkt. Rechtspopulisten behaupten, die Interessen des »wahren Volks« zu vertreten, im Gegensatz zu den korrupten »Eliten« und Bürokratien.

Dieser Text hilft zu verstehen, wie Rechtsextreme an Einfluss gewinnen. Viele nationalistische Soldaten sind überzeugt, dass sie sich den Anspruch auf Macht und damit auf Zugang zu den Fleischtöpfen mit ihrem eigenen Blut verdient haben: Sie sind jung, sie fühlen sich legitimiert, sie behaupten, im Namen des Volkes zu handeln und weder zu lügen noch zu stehlen – im Gegensatz zu den alten Funktionären, die völlig korrupt seien und die den Krieg fast verloren hätten.

Rasskasows Rhetorik erinnert an den gängigen Rechtspopulismus, der in etlichen Ländern erstarkt. Rechtspopulisten behaupten, die Interessen des »wahren Volks« zu vertreten, im Gegensatz zu den korrupten »Eliten« und Bürokratien. Sie versprechen, die staatlichen Institutionen zu säubern und endlich wieder Ordnung ins Land zu bringen.

Im heutigen Russland wird diese Art Rechtspopulismus von jungen Faschisten vertreten, die eng mit dem Militär verbunden sind. Sie wenden sich gegen die halbseidenen alten Bonzen mit Doppelkinn, die sich bereichern, Bestechungsgelder annehmen und die ­Armee ruinieren – Leute wie Semigin.

Rasskasow forderte, Kriegsgefangene zu kastrieren

Hinter den jungen Faschisten verbirgt sich etwas noch Gefährlicheres als die übliche Brutalität des Putin-Regimes. Rasskasow wurde in Russland berühmt, weil er öffentlich zugab, dass er sexuelle Erregung verspüre, wenn er sich das Leiden der Angehörigen von Menschen vorstellte, die er tötete. Er forderte, Kriegsgefangene zu kastrieren und ihnen die Lippen abzuschneiden, und er phantasierte davon, Kinder aus der Ukraine zu versklaven. Im November 2022 wurde er wegen einer Schlägerei in einer Moskauer Bar zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Am 20. April – Hitlers Geburtstag – gratulierte er in seinem Telegram-Kanal »unserem Mitstreiter und Freund«, der zwar nicht mehr unter den Lebenden weile, aber sie ansporne, »den ukraino-bolschewistischen Abschaum zu be­siegen«.

Dass Semigin unter dem Druck der extremen Rechten abgesetzt wurde, ist ein beunruhigendes Zeichen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Russland von einer »Machtvertikale« geprägt ist: Das bedeutet, dass die gesamte Macht im Staat von der Spitze ausgeht – von Wladimir Putin. Es kommt äußerst selten vor, dass dem Druck von unten nachgegeben wird. Russlands Faschisten genießen durch den Krieg immer mehr Ansehen, sie werden vom ultraorthodoxen Milliardär Konstantin Malofejew unterstützt, sie verfügen über kampferprobte Aktivisten und geübte Wortführer. Sollte das Regime irgendwann ins Wanken geraten, stehen sie bereit.