Alexei Nawalny: Er tat, was er konnte – und mehr

Author
Ilya Matveev
Date
February 22, 2024

War Alexei Nawalny ein Held oder ein neoliberaler Handlanger des Westens? Ein politischer Nachruf des Politologen und Publizisten Ilya Matveev.

Alexei Nawalny ist tot. Er wurde getötet von seinen Feinden: dem Regime von Wladimir Putin. Und zu Recht würdigt die Welt jetzt sein Leben und seinen Kampf. Sogleich hat sich aber auch eine Gegenerzählung etabliert, vor allem in der Linken. In dieser Erzählung wird Nawalny als Rassist, als Neoliberaler, als typischer Politiker für die Mittelklasse und als Handlanger des Westens (wenn nicht sogar der CIA) abgetan.

Diese Erzählung löst bei mir – so wie auch bei anderen Vertreter:innen der russischen Opposition – viel aus. Meine Enttäuschung und meine Wut darüber möchte ich hier aber nicht zum Ausdruck bringen. Eher will ich zu vermitteln versuchen, wer Nawalny war. Und zunächst: wer er nicht war.

Zu Beginn seiner politischen Karriere in den nuller Jahren war Nawalny stark beeinflusst von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit, die die russische Gesellschaft durchdringen. Es gelang ihm aber, diese Einflüsse hinter sich zu lassen. Später entschuldigte er sich für seine früheren fremdenfeindlichen Äusserungen; den ethnischen Nationalismus lehnte er seit langem ab. Stattdessen entwickelte er eine eigene Art Populismus: einen Patriotismus frei von Hass. Noch wenige Monate vor seinem Tod reichte er vom Gefängnis aus eine Klage ein. Er forderte damit, dass Verletzungen der Rechte muslimischer Gefangener beendet werden müssten. Bis zuletzt setzte er sich für andere ein.

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Nawalny war kein Neoliberaler. Er hat den Kampf gegen die Korruption (den aufsehenerregendsten Teil seiner Arbeit) zu einer Grundlage für die Kritik an Russlands ökonomischer Ungleichheit weiterentwickelt. Er griff sowohl die wirtschaftlichen als auch die politischen Eliten an und fiel damit bei den tatsächlichen Neoliberalen Russlands in Ungnade. Diese lehnen jede Kritik am Grosskapital ab, auch an seinen korruptesten Exponent:innen und den vehementesten Verfechter:innen der Klientelpolitik. Obwohl Nawalny sicherlich kein linker Politiker war, hatte er doch ein Gespür für die sozialen Probleme seines Landes (im Gegensatz zu einigen seiner Berater:innen).

Ilya Matveev

Der Publizist und Politikwissenschaftler Ilya Matveev (35) dozierte vor seiner Emigration in die USA in St. Petersburg. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der politischen Ökonomie Russlands.

Nawalny machte nicht nur Politik für die städtische Mittelschicht. Seine Anziehungskraft wirkte weit darüber hinaus. Er gründete ein Netzwerk, das in die ländlichen Regionen Russlands reichte und an dem sich breite Bevölkerungsschichten beteiligten, darunter auch unzufriedene Jugendliche. Die Dynamik dieser Organisation, in Kombination mit Nawalnys sozialpopulistischer Rhetorik, beunruhigte die Behörden zutiefst. Sie zerschlugen sein Netzwerk mit der ganzen Härte des repressiven Staates. Die Strafverfolgungsbehörden behandelten seine Anhänger:innen, die sich der Gewaltlosigkeit verschrieben hatten, als gewalttätige Extremist:innen.

Nawalny war kein Handlanger des Westens. Er ging nie Kompromisse ein, um sich beim westlichen Establishment anzubiedern. Dieses war ihm gegenüber eher ambivalent eingestellt. So sagte etwa der tschechische Präsident Petr Pavel im Januar 2023: «Alexei Nawalny ist eigentlich kein richtiger Oppositionsführer. Er ist definitiv kein liberaler Demokrat, er ist eine andere Art russischer Nationalist.» Im ehemaligen Vorsitzenden des Nato-Militärausschusses haben die linken Kritiker:innen Nawalnys ironischerweise also einen Verbündeten gefunden.

Und nun dazu, wer Nawalny anstelle all dieser Zuschreibungen tatsächlich war: Sein politischer Aufstieg lässt sich damit erklären, dass er Eigenschaften auf sich vereinte, die in dieser Kombination bei Politiker:innen selten sind. Sie machten ihn zu einem so grossen Gewinn für die russische Opposition, und ich kann nur hoffen, dass es andere geben wird, die in seine Fussstapfen werden treten können.

Nawalny war ein Stratege. Er nahm Machtpolitik ernst, gab sich nie mit einer moralischen Opposition, die sich nicht mit Strategie, Organisation und Ressourcen befasst, zufrieden. Taktisch brillant führte er Putins Regime den grösstmöglichen Schaden zu; mit Medienarbeit, Strassenprotesten und taktischem Wählen. Er ging klug vor, machte das Optimum aus dem, was ihm zur Verfügung stand.

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Nawalny war ein charismatischer Anführer. Sein Charisma beschränkte sich nicht darauf, dass er gut reden konnte. Er war auch ein hervorragender Autor – präzise, brutal und bissig gegenüber seinen Feind:innen und warmherzig und mitfühlend gegenüber seinen Freund:innen. Als er aus dem Gefängnis heraus Statements veröffentlichte, übermittelt durch seine Anwälte, bezweifelte ich nie, dass sie echt waren. Ich erkannte seine Stimme darin wieder. Seine aussergewöhnliche Ausstrahlung war in jedem Medium zu spüren: in öffentlichen Reden, in Videos und in Texten.

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Und schliesslich war Nawalny mutig. Immer wieder blickte er Leid und Tod in die Augen, nie wich er davor zurück. Dass er so tapfer war, machte ihn zu einem starken Symbol. Wir mussten nie an ihm zweifeln. Nur daran, ob wir selbst auch so mutig sein könnten wie er.

Ich war nicht immer damit einverstanden, was Nawalny sagte. Einige seiner Forderungen, etwa diejenigen nach der Einführung eines Visazwangs für Migrant:innen aus Zentralasien, grenzen für mich an Rechtspopulismus. Seinem Herzen nach war Nawalny ein liberaler Politiker. Ich bin kein Liberaler. Ich habe mich immer dafür eingesetzt, dass in der russischen Opposition ein unabhängiger linker Pol entsteht. Nawalnys Strategie, die Opposition zu beherrschen, hielt ich für kontraproduktiv. Und seine Organisation war eindeutig zu abhängig von ihm als politischem Anführer. Trotzdem muss anerkannt werden, was Nawalny war: ein Gigant der antiautoritären Politik und des gewaltlosen Widerstands.

Seit Alexei Nawalnys Tod sind die kleinen Männer des Kreml so grausam, wie sie es immer sind. Abstossend ihre Scharade um Nawalnys Leiche, ihre Weigerung, sie seiner Familie zu übergeben – zweifellos aus Angst, dass so die Todesursache bekannt wird. Schon etwa 400 Menschen, die Nawalny die letzte Ehre erwiesen, wurden verhaftet. Dutzende von Bereitschaftspolizist:innen gingen auf Menschen los, die Blumen und Kerzen mit sich trugen. Am Tag, an dem Nawalny starb, amüsierte sich ein gut gelaunter Wladimir Putin bei einem Treffen mit Studenten und Industriearbeiterinnen in Tscheljabinsk, einer Stadt in Westsibirien.

Hätte Nawalny sein Ziel, die Diktatur zu stürzen und die Demokratie einzuführen, erreichen können, wenn er auf eine andere Strategie, Taktik oder Rhetorik gesetzt hätte, wie einige Kritiker:innen behaupten? Das bezweifle ich. Er hat getan, was er tun konnte. Und mehr. Aber alle Zeichen standen gegen ihn – gegen uns alle. Bedeutet das, dass Russland für immer unfrei bleiben wird? Auch das glaube ich nicht. Auf Nawalny werden andere folgen. Sie werden von ihm lernen, sie werden sich von ihm inspirieren lassen. Sie werden seine Arbeit zu Ende bringen.

Aus dem Englischen von Lukas Tobler.