Gegen den russischen Imperialismus

Author

Russländische Sozialistische Bewegung Sotsialnyi Rukh (Soziale Bewegung)

Date
April 9, 2022

Wir dokumentieren die gemeinsame Stellungnahme der Russländischen Sozialistischen Bewegung & von Sotsialnyi Rukh (Soziale Bewegung). Sie wurde am 7. April 2022 von der Zeitschrift LeftEast auf Englisch publiziert. Wir wollen den Stimmen emanzipatorischer und sozialistischer Kräfte in Russland und der Ukraine ein Gehör im deutschen Sprachraum verschaffen. Nur wenn wir ihre Wahrnehmungen und Einschätzungen in unsere Positionsfindung integrieren, können wir die so dringend nötigen gemeinsamen Lernprozesse voranbringen. (Redaktion emanzipation)

Obwohl die Mehrheit der Linken die russische Invasion in der Ukraine verurteilt, fehlt es der politischen Linken doch an Geschlossenheit. Wir möchten uns nun explizit an die Linken wenden, die immer noch an einer Position à la „Pest oder Cholera” festhalten und den Krieg als einen inter-imperialistischen Krieg betrachten.

Die Linke muss unseres Erachtens endlich eine “konkrete Analyse der konkreten Situation” vornehmen, anstatt veraltete Kategorien aus dem Kalten Krieg zu reproduzieren. Es ist ein großer Fehler einiger Linken, den russischen Imperialismus nicht ernst zu nehmen. Es ist Putin, nicht die NATO, der Krieg gegen die Ukraine führt. Deshalb ist es wichtig, den Fokus vom westlichen Imperialismus nun auf den aggressiven russischen Imperialismus zu lenken. Dieser hat nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische und ideologische Ebene.

Der russische Imperialismus besteht aus zwei Elementen. Erstens beinhaltet er einen revisionistischen russischen Nationalismus. Nach 2012 gingen Putin und sein Establishment von einem bürgerrechtlichen Konzept der Nation (als rossijskij, „mit Russland verbunden“) zu einem exklusiv ethnisch begründeten Konzept des Russentums (als russkij, „ethnisch / kulturell russisch“) über. Seine Aggressionen gegenüber der Ukraine im Jahr 2014 und 2022 soll durch die Rückgabe “ursprünglich“ russischer Gebiete legitimiert werden. Darüber hinaus reanimiert dieses (ethnische) „Russisch-Sein“ das imperiale Konzept der russischen Nation aus dem 19. Jahrhundert. Demnach seien Russ:innen, Weißruss:innen und Ukrainer:innen ein einziges großrussisches Volk.

Die Verwendung dieses Konzepts in der offiziellen Rhetorik impliziert die Absage an einen unabhängigen ukrainischen Staat. Deshalb ist es unklar, ob Putin nur die Gebiete in der Ostukraine wie Donbass und Luhansk in das russische Reich aufnehmen möchte. Möglicherweise will Putin die gesamte Ukraine annektieren oder unterwerfen, wie er es in seinem Artikel „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ [vom 12. Juli 2021] und in seiner Rede am 21. Februar angedroht hat. Zudem sind die Aussichten auf Friedensgespräche zwischen der Ukraine und Russland ziemlich düster, da das russische Verhandlungsteam vom ehemaligen Kulturminister Wladimir Medinskij angeführt wird, einem der eifrigsten Anhänger der Ideologie der russischen Welt (russkiy mir), eine Welt, in der – glaubt uns – niemand glücklich sein wird.

Zweitens: Auch wenn Putins Aggression rational schwer zu erklären ist, haben die aktuellen Ereignisse gezeigt, dass es dennoch vernünftig ist, die oft überbordende imperialistische Rhetorik des Kreml für bare Münze zu nehmen. Der russische Imperialismus wird von dem Wunsch angetrieben die sogenannte „Weltordnung“ zu verändern. So deuten Putins Forderungen nach einem Rückzug der NATO aus Osteuropa darauf hin, dass Russland nicht bei der Ukraine stehen bleiben wird und Moldawien, Polen oder die baltischen Staaten die nächsten Ziele von Putins Aggression sein können.

Es ist geradezu naiv, die Entmilitarisierung Osteuropas zu fordern, denn angesichts der derzeitigen Umstände würde dies Putin nur beschwichtigen und die osteuropäischen Länder für Putins Aggressionen verwundbarer machen. Der Diskurs über die NATO-Erweiterung verschleiert Putins Wunsch, die Einflusssphären in Europa zwischen den USA und Russland aufzuteilen. Die Zugehörigkeit zur russischen Einflusssphäre bedeutet die politische Unterordnung eines Landes unter Russland und die Unterwerfung unter die Expansion des russischen Kapitals. Die Fälle Georgien und Ukraine zeigen, dass Putin bereit ist, mit Gewalt Einfluss auf die politischen Angelegenheiten von Ländern zu nehmen, die seiner Meinung nach die russische Einflusssphäre verlassen wollen. Es ist wichtig zu verstehen, dass Putins Verständnis der wichtigen Akteure in der Weltordnung im Wesentlichen auf die USA und China beschränkt ist. Er erkennt die Souveränität anderer Länder nicht an und betrachtet sie als Satelliten eines dieser Akteure der internationalen Ordnung.

Putin und sein Establishment handeln ausgesprochen zynisch. Sie nutzen die Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO, die amerikanische Intervention in Afghanistan und die Invasion im Irak als Vorwand für die Bombardierung der Ukraine. In diesem Zusammenhang muss die Linke konsistent bleiben und sich gegen jede imperialistische Aggression in der Welt aussprechen. In der Ukraine ist der imperialistische Aggressor heute Russland, und nicht die NATO, und wenn Russland in der Ukraine nicht gestoppt wird, wird das Putin-Regime seine Aggression definitiv fortsetzen.

Außerdem dürfen wir uns keine Illusionen über Putins Regime machen. Es bietet keine Alternative zum westlichen Kapitalismus. Es ist ein autoritärer, oligarchischer Kapitalismus. Das Ausmaß der Ungleichheit in Russland hat in den 20 Jahren seiner Herrschaft erheblich zugenommen. Putin ist nicht nur ein Feind der Arbeiter:innenklasse, sondern auch ein Feind aller Formen der Demokratie. Die Beteiligung der Bevölkerung an Politik und an sozialpolitischen Verbänden wird in Russland mit Misstrauen betrachtet. Putin ist im Grunde ein Antikommunist und ein Feind all dessen, wofür die Linke im zwanzigsten Jahrhundert gekämpft hat und im einundzwanzigsten kämpft. In seiner Weltanschauung haben die Starken das Recht, die Schwachen zu schlagen, die Reichen haben das Recht, die Armen auszubeuten, und die Machthaber haben das Recht, Entscheidungen im Namen ihrer entmachteten Bevölkerung zu treffen. Dieser Weltanschauung muss in der Ukraine ein schwerer Schlag versetzt werden. Um einen politischen Wandel innerhalb Russlands herbeizuführen, muss die russische Armee in der Ukraine besiegt werden.

Wir wollen deswegen eine sehr umstrittene Forderung ansprechen, nämlich die nach militärischer Hilfe für die Ukraine. Wir verstehen die Auswirkungen der Militarisierung auf die fortschrittliche linke Bewegung weltweit und den Widerstand der Linken gegen die NATO-Erweiterung und westliche Interventionen. Um ein umfassenderes Bild zu erhalten, ist jedoch mehr Kontext erforderlich. Zunächst einmal haben NATO-Länder trotz des Embargos von 2014 Waffen an Russland geliefert (Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich, Bulgarien, Tschechische Republik, Kroatien, Slowakei und Spanien). Die Diskussion darüber, ob die in die Region gelieferten Waffen in den richtigen oder falschen Händen landen, kommt also mindestens etwas spät. Außerdem erfordern die alternativen Sicherheitsgarantien, die die ukrainische Regierung vorgeschlagen hat, die Beteiligung einer Reihe von Ländern und können wahrscheinlich auch nur mit deren Beteiligung erreicht werden.

Zweitens ist, wie in zahlreichen Artikeln betont wurde, das Asow-Regiment ein Problem. Doch anders als 2014 spielt die extreme Rechte im heutigen Krieg, der zu einem Volkskrieg geworden ist, keine herausragende Rolle – und unsere Genossinnen und Genossen der antiautoritären Linken in der Ukraine, Russland und Belarus kämpfen gemeinsam gegen den russischen Imperialismus. Wie in den letzten Tagen deutlich geworden ist, versucht Russland, sein militärisches Versagen am Boden durch Luftangriffe zu kompensieren. Die Luftabwehr wird Asow keine zusätzliche Macht verleihen, aber sie wird der Ukraine helfen, die Kontrolle über ihr Territorium zu behalten und die Zahl der Toten in der Zivilbevölkerung zu verringern, selbst wenn die Verhandlungen scheitern sollten.

Unserer Meinung nach sollte die Linke fordern:

  • den sofortigen Abzug aller russischen Streitkräfte aus der Ukraine;
  • neue gezielte, personenbezogene Sanktionen gegen Putin und seine Multimillionäre. (Es ist wichtig zu verstehen, dass Putin und sein Establishment sich nur um ihr eigenes Privatvermögen kümmern; der Zustand der russischen Wirtschaft insgesamt ist ihnen eher gleichgültig. Die Linke kann diese Forderung auch nutzen, um die Heuchelei derjenigen zu entlarven, die Putins Regime und seine Armee unterstützt haben und sogar jetzt noch Waffen an Russland verkaufen);
  • die Sanktionierung von russischen Öl- und Gasexporten;
  • verstärkte militärische Unterstützung für die Ukraine, insbesondere die Bereitstellung von Luftabwehrsystemen;
  • die Entsendung von UN-Friedenstruppen aus Nicht-NATO-Ländern zum Schutz der Zivilbevölkerung, einschließlich des Schutzes grüner Korridore und des Schutzes von Atomkraftwerken (das Veto Russlands im UN-Sicherheitsrat kann in der Generalversammlung überwunden werden).

Die Linke sollte auch die ukrainischen Linken unterstützen, die Widerstand leisten, indem sie ihnen Sichtbarkeit verschafft, ihre Stimmen in den Fokus rückt und sie finanziell unterstützt. Wir sind uns bewusst, dass es die Millionen von ukrainischen Arbeitern und Freiwilligen in der humanitären Hilfe sind, die den weiteren Widerstand ermöglichen.

Eine Reihe anderer Forderungen – Unterstützung für alle Flüchtlinge in Europa unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, Erlass der Auslandsschulden der Ukraine, Sanktionen gegen russische Oligarchen usw. – sind in der Linken weithin akzeptiert und erfordern unseres Erachtens daher hier keine weitere Diskussion.

Der russische Einmarsch in die Ukraine ist ein schrecklicher Präzedenzfall für die Lösung von geopolitischen Konflikten in Osteuropa, der das Risiko eines Atomkriegs beinhalten. Deshalb muss die Linke eine eigene Vision der internationalen Beziehungen und der Architektur der internationalen Sicherheit entwickeln, die eine multilaterale nukleare Abrüstung (die für alle Atommächte verbindlich sein wird) und die Institutionalisierung internationaler wirtschaftlicher Antworten auf jede imperialistische Aggression in der Welt beinhalten kann. Die militärische Niederlage Russlands sollte der erste Schritt zur Demokratisierung der Weltordnung und zur Bildung eines internationalen Sicherheitssystems sein, und die internationale Linke muss einen Beitrag dazu leisten.