Ein Krieg, der eine und der andere Westen

Ein Jahr nach der russischen Aggression gegen die Ukraine scheint es weniger um das angegriffene Land als vielmehr um westliche Interessen zu gehen. Diese Rhetorik scheint ebenso falsch wie gefährlich zu sein, nicht zuletzt für die Ukraine selbst.

Kurz nach dem russischen Angriff am 24. Februar 2022 gab es auch in polnischen Kommentaren die Tendenz, die Ukraine in die Rolle des Verteidigers des Westens gegen die orientalische Barbarei zu stellen. Die Absichten waren natürlich gut gemeint. Es ging darum zu betonen, dass der Kampf des ukrainischen Volkes gegen die russische Aggression uns etwas angehen sollte, weil der Moskauer Imperialismus auch andere europäische Länder bedroht. In diesem Sinne sei der Krieg in der Ukraine auch der Krieg des Westens und es sei unsere Pflicht, dem Opfer der Aggression zu helfen. Scheinbar ist an einer solchen Denkweise nichts auszusetzen. Sie wird sowohl durch die Geografie als auch durch die Bedrohung durch den russischen Imperialismus gestützt. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um eine Falle, die uns in eine Realität zurückführt, die gefährlich an das Jahr 1914 erinnert. Damals huldigten die europäischen Machteliten den Spekulationen einer neuen Wissenschaft namens Geopolitik. Begeistert von ihren Erkenntnissen glaubten sie, einen Krieg zu brauchen, und machten sich mit Begeisterung daran, ihn zu führen – mit den bekannten Ergebnissen. Heute erleben wir eine Renaissance dieses Geheimwissens der Weltherrscher, über das der große polnische Historiker Marian Małowist treffend schrieb, dass es dorthin zurückgebracht werden sollte, wo es herkam – in den Mülleimer anderer pseudowissenschaftlicher Theorien. Leider wird dies nicht geschehen. Denn diese „Weisheit“ wird sowohl von Wladimir Putin als auch von Jens Stoltenberg geteilt.

Obwohl die Mode der Geopolitik schon vor einiger Zeit begann, nimmt sie heute wieder die Form an, mit der damals die Rivalitäten der Supermächte vor dem ersten Weltkrieg erklärt wurden. Darüber hinaus wird sie von ähnlichen wirtschaftlichen Phänomenen begleitet – einem Gerangel um Ressourcen, einem neuen Spiel um Einfluss und dem Aufstieg der Monopolmacht von Unternehmen. Das sind keine guten Nachrichten für die Bewohner:innen von Cherson oder Charkiw. Denn Geopolitik bedeutet, dass die Interessen der Mächtigen Vorrang vor den demokratischen Bestrebungen der Gesellschaften haben. Es genügt, die Analysen der Anhänger:innen dieser Politik zu lesen. Für sie zählt die ukrainische Frage nur als Alibi für einen neuen Krieg der Zivilisationen, für einen neuen Kalten Krieg oder für die Vorbereitung einer ziemlich heftigen Invasion im Iran und – warum nicht – eines Krieges mit China. Sie kann auch als Vorwand für eine Verschärfung des innenpolitischen Kurses dienen, wie es in Polen geschieht, wo Putins Aggression es rechtfertigt, Flüchtlinge in den Sümpfen von Podlachien zu ertränken, eine Mauer an der Grenze zu Belarus zu errichten und russische politische Migrant:innen aus Warschau “herauszuekeln”.

Die Betrachtung des Krieges durch die geopolitische Brille ignoriert die sozioökonomischen Aspekte der ukrainischen Revolutionen von 2004 bis 2014, als die Menschen auf dem Kiewer Maidan den oligarchischen Kapitalismus ablehnten, dessen Grundpfeiler ein Netzwerk von Kapital- und Handelsbeziehungen mit Russland ist. Stattdessen ordnet die Geopolitik die Ukraine den strategischen Prioritäten der Supermächte unter und setzt sie den Folgen ihrer Veränderungen aus. Ein Bündnis zwischen Washington und Moskau ist heute nur schwer vorstellbar, aber angesichts der Ziele von Bidens Team ist es nicht völlig abwegig. Es genügt zu erwähnen, wie die Ausnutzung der syrischen Kurden als “Fußsoldaten des Westens” im Kampf gegen die Organisation Islamischer Staat endete. Kurz nach dem Sieg wurden die Kurden im Namen einer Allianz mit der den Dschihadismus unterstützenden (und gegen die kurdischen Bestrebungen gerichteten) Türkei im Stich gelassen. Wir sollten keinen Zweifel daran haben, dass die USA die Ukraine fallen lassen oder zu einem ungünstigen „Frieden“ zwingen würde, wenn es zu einem für sie wichtigeren Konflikt mit Peking käme. Ein Test für die Glaubwürdigkeit der NATO-Staaten wird in diesem Zusammenhang nicht nur die Zahl der Panzer sein, die in die Ukraine geschickt werden, sondern auch die Frage der Abrechnung der Militärhilfe und die Frage der Schulden. Solange wir Kiew nicht die Schulden erlassen und damit seine internationale Stellung und wirtschaftliche Souveränität sichern, wird unsere Solidarität nur ein Instrument sein, um unsere eigenen geopolitischen Interessen durchzusetzen.

Was bedeutet der Westen, dessen Bollwerk die Ukrainer sein sollen, anderswo? Vielleicht beschreibt das die Aussage von Ghandi treffend, dass die westliche Zivilisation eine gute Idee sei? Der Führer der indischen Befreiungsbewegung meinte das durchaus ironisch. Schließlich hatte er mit eigenen Augen die Auswirkungen westlicher Wohltaten wie der kolonialen Politik des Aushungerns, der Sklaverei und des Rassismus gesehen. Auf der Suche nach dem Beitrag des Westens zur Geschichte werden wir eher früher als später solche emblematischen “Errungenschaften” wie den Völkermord im Kongo, Auschwitz, die Konzentrationslager in Kenia, die Folter in Algerien und den “Orange Factor” in Vietnam ausgraben. Auch ohne den uneingeschränkten „Krieg gegen den Terror“, die Besetzung Afghanistans und des Irak oder die Unterstützung der saudischen Aggression gegen den Jemen sieht die Bilanz nicht ermutigend aus. In Anbetracht dieses Erbes lässt sich nicht leugnen, dass der Westen heute in Wirklichkeit von Russland vertreten wird. Das war auch in der Vergangenheit so, denn der Moskauer Imperialismus war von Anfang an eine periphere Variante des westlichen Imperialismus.

Die ukrainische Bevölkerung steht auf der anderen Seite der Barrikade. Erstens, weil die Ukraine seit dem 16. Jahrhundert kolonisiert wurde – zunächst von der Polnischen Republik, dann vom polnischen Adel und Russland und schließlich von der Zweiten Polnischen Republik, dem „Dritten Reich“, der UdSSR und der Volksrepublik Polen. Zweitens, weil ihr Ziel darin besteht, den Aggressor zu besiegen und die besetzten Gebiete des Landes zu befreien, und nicht darin, die Erosion der US-Hegemonie in der Welt zu stoppen. Natürlich haben die Ziele der ukrainischen Bevölkerung eine Menge mit dem Westen gemein. Dabei geht es jedoch um einen ganz anderen Westen. Er wird von den Opfern und Widerständler:innen gegen die westlichen herrschenden Klassen vertreten. Es geht also um einen plebejischen und peripheren Westen, einen Westen der sozialen Revolutionen und Volksaufstände, der Kämpfe um universelle Rechte und der Klassenkämpfe, einen Westen des Strebens der Basis nach Gleichheit und Ermächtigung, der in den westlichen Machtzentren nie eine gute Presse hatte. Aus diesem Grund kann der Krieg in der Ukraine als ein Zusammenstoß von „zwei Westen“ beschrieben werden. Der imperiale Westen kämpft gegen den der nationalen Befreiung, der autoritäre gegen den demokratischen, der militaristische gegen den, der bewaffneten Widerstand gegen den Militarismus leistet.

Der Beitrag erschien zuerst in der polnischen Ausgabe der Le Monde Diplomatique vom 24. Februar 2023, Nr. 1 (179). Übersetzung: Norbert Kollenda; redaktionelle Bearbeitung: Renate Hürtgen und Bernd Gehrke.

Bildquelle: vieles ist eine Frage der Perspektive – Odessa fotografiert von sasha set auf Unsplash

Przemysław Wielgosz ist Chefredakteur der polnischen Ausgabe der Le Monde Diplomatique.