Die US-Linke und der Krieg in der Ukraine

Dan La Botz, Gewerkschaftsaktivist und Redakteur der Zeitschrift New Politics, zeichnet die Positionen der politischen Linken in den Vereinigten Staaten nach.

1. Amerikanische Politik und Außenpolitik

Die amerikanische Bevölkerung unterstützt im Großen und Ganzen die Ukraine in ihrem Kampf um ihre Souveränität gegen Russland. Laut einer aktuellen Umfrage unterstützen zwei Drittel der Amerikaner:innen die Rückgewinnung des ukrainischen Territoriums. Achtzig Prozent der Demokrat:innen unterstützen die Ukraine, aber die meisten Republikaner:innen wünschen sich ein baldiges Ende des Konflikts, selbst wenn dies bedeutet, dass die Ukraine Gebiete an Russland abtreten muss.

Das konservative und antidemokratische politische System der USA und die langjährige Vorherrschaft der kapitalistischen Demokratischen und der Republikanischen Partei, von denen sich letztere in letzter Zeit zu einer rechtsextremen Partei entwickelt hat, haben dafür gesorgt, dass die Linke schwach ist. Bei Wahlen gibt es praktisch keine nennenswerte Opposition zu den beiden großen Parteien. Die Demokraten und die Republikaner sind keine disziplinierten Parteien, sie sind von Spaltungen zerrissen, und einige Demokrat:innen halten sich für progressiv oder sozialistisch. Ein Drittel der Wähler:innen bezeichnet sich als Unabhängige, die bei Wahlen entweder für die Republikaner oder die Demokraten stimmen können. Die Parteien der Wahllinken – Grüne Partei, Peace and Freedom Party (in Kalifornien), Socialist Workers Party und Socialist Party – erhalten nur einen winzigen Prozentsatz der Wähler:innenstimmen. Die Kommunistische Partei der USA hat seit den 1990er Jahren keine Kandidat:innen mehr aufgestellt.

Historisch gesehen hatten die Republikaner und Demokraten nach dem Zweiten Weltkrieg zwanzig Jahre lang keine grundlegenden politischen Differenzen in der Außenpolitik. Der Grundsatz lautete: Die Politik endet an der US-amerikanischen Küste. Differenzen traten jedoch während des Vietnamkriegs und später während des Afghanistan- und des Irakkriegs auf, und dann insbesondere während der Präsidentschaft Trumps. Trump forderte ein Ende der endlosen Kriege, einen Bruch der Vereinigten Staaten mit ihren europäischen Verbündeten in der NATO und der EU und äußerte seine Bewunderung für Wladimir Putin, den autoritären Staatschef Russlands, das in der Nachkriegszeit der Hauptgegner der USA gewesen war.

Im Inland machte Trump die Wirtschaftspolitik Chinas, muslimisch-arabische Terrorist:innen und die lateinamerikanische Einwanderungspolitik für die Probleme der USA verantwortlich. Mit seinem “America First”-Programm veränderte er die internationalen Beziehungen der USA dramatisch. (Er drohte mit dem Austritt aus der NATO, verließ die Transpazifische Partnerschaft, kündigte das Pariser Klimaabkommen, zog sich aus dem Atomabkommen mit dem Iran zurück und trat aus der Weltgesundheitsorganisation, der UNESCO und dem UN-Menschenrechtsrat aus.) Er war auch kurz davor, einen Atomkrieg mit Nordkorea auszulösen, hat sich dann aber in Kim Jong-un “verliebt”. Die außenpolitischen Beziehungen wurden chaotisch.

Präsident Joe Biden, der hofft, sich der Herausforderung Chinas stellen zu können, ist zur traditionellen imperialen Politik der USA zurückgekehrt und versucht, das NATO-Bündnis und die Beziehungen zur EU wiederherzustellen, insbesondere durch die Unterstützung des Verteidigungskriegs der Ukraine gegen die russische Invasion. Außerdem arbeitet er am Aufbau eines asiatischen Bündnisses mit Japan, Australien, Südkorea, Vietnam, den Philippinen und Thailand, Indien und anderen. Lateinamerika, das einst relativ leicht von den Vereinigten Staaten dominiert wurde, ist politisch zersplittert und einige Länder suchen nach anderen ausländischen Verbündeten, während China zum zweitgrößten Investor des Kontinents geworden ist.

Außenpolitik steht nur selten ganz oben auf der Prioritätenliste der amerikanischen Bevölkerung. Wirtschaftliche Sorgen, derzeit die Inflation, Abtreibung (wegen der Aufhebung des Urteils Roe v. Wade), Schusswaffen oder Kriminalität stehen weiter oben auf der Liste. Laut einer aktuellen und äußerst zuverlässigen Umfrage unterstützen die Amerikaner:innen beider großer Parteien mit überwältigender Mehrheit das Recht der Ukraine, ihre Souveränität zu verteidigen und ihr Territorium zurückzuerobern. Die Abstimmung im US-Kongress über die Militärhilfe für die Ukraine fiel mit 86 zu 11 Stimmen im Senat und 368 zu 57 Stimmen im Repräsentantenhaus aus. Die Nein-Stimmen wurden von Republikaner:innen abgegeben, die der extremen Rechten zuzurechnen sind.

Es sollte erwähnt werden, dass es in den Vereinigten Staaten in einigen Städten große ukrainische Gemeinden gibt. Seit Beginn des Krieges organisierten diese Gemeinden große Protestdemonstrationen gegen die russische Invasion. Über ihre Kirchen und sozialen Organisationen leisten die ukrainischen Amerikaner:innen materielle Hilfe für die Ukraine. Es gibt nur sehr wenige Verbindungen zwischen der ukrainischen Gemeinschaft und der US-Linken.

2. Die unmittelbare Situation der Linken und der Ukraine

Das Spektrum der amerikanischen Linken reicht vom linken Flügel der Demokratischen Partei über die linken Wahlparteien (Grüne, P&F usw.), die sozialistischen Organisationen und Sekten bis hin zu den sozialen Bewegungen. Die US-amerikanische Arbeiter:innenbewegung kann nicht zur Linken gezählt werden, da sie im Allgemeinen keine linken Positionen vertritt und sich nicht an sozialen Bewegungen beteiligt oder mit ihnen solidarisiert. Die Führer:innen der Linken der Demokratischen Partei, die sich selbst als sozialistisch bezeichnen, Senator Bernie Sanders und die als “the Squad” (die Truppe) bekannten Kongressabgeordneten – Alexandria Ocasio-Cortez, Ilhan Omar, Ayanna Pressley, Rashida Tlaib, Jamaal Bowman, Cori Bush – haben alle für die Gesetzentwürfe zur Finanzierung der Militärhilfe für die Ukraine gestimmt.

Die größte organisierte sozialistische Gruppe in den Vereinigten Staaten sind die Democratic Socialists of America (DSA), die nach eigenen Angaben 90.000 Mitglieder haben. Die DSA sind keine politische Partei und stellen keine Kandidat:innen für ein Amt auf, aber sie unterstützen Kandidat:innen, von denen die meisten für unabhängige Positionen oder als Demokrat:innen kandidieren. Die DSA haben sich als unfähig erwiesen, ernsthafte politische Diskussionen und Debatten zu organisieren, so dass es schwierig ist, herauszufinden, was ihre Mitglieder tatsächlich über viele Themen denken. Die DSA haben sich jedoch gegen den Einmarsch Russlands in die Ukraine ausgesprochen, lehnen aber auch Militärhilfe für die Ukraine ab. Die DSA unterstützen weder die Selbstbestimmung der Ukraine noch ihr Recht, ihre territoriale Integrität zu schützen. Die Kommunistische Partei, die zweitgrößte linke Organisation in den Vereinigten Staaten, hat eine ähnliche Position eingenommen: Sie kritisiert den Einmarsch Russlands, lehnt aber ebenfalls weitere militärische Unterstützung für die Ukraine ab. Andere kleinere linke Organisationen wie die Party of Socialism and Liberation vertreten eine ähnliche Position, auch wenn sie zur Unterstützung Russlands tendieren. Bei den kleineren Organisationen der trotzkistischen Linken findet man das Argument, dass die USA und die NATO für den Krieg verantwortlich sind, manchmal ohne Kritik an Russland. Wie man sieht, sind campistische und sogar neostalinistische Politiken in der amerikanischen Linken heute weit verbreitet.

Andere Gruppen lehnen die russische Invasion ab und unterstützen die russische Antikriegsbewegung, betrachten den Krieg jedoch als einen interimperialistischen Konflikt und kritisieren, dass die Ukraine Waffen aus anderen Ländern annimmt.

Jacobin, die auflagenstärkste Publikation und Website des Landes, verurteilte zwar zunächst die russische Invasion, wies aber vor allem auf die Verantwortung der USA und der NATO für den Krieg hin und sagte voraus, dass die an die Ukraine gelieferten Waffen in die Hände von Neonazis gelangen würden. In jüngster Zeit hat die Zeitschrift Artikel ukrainischer Sozialist:innen veröffentlicht, die sowohl Russland bekämpfen als auch Widerstand gegen die neoliberale und arbeiterfeindliche Agenda des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj leisten.

Noam Chomsky, Amerikas bekanntester Linker, hat die russische Invasion in der Ukraine scharf verurteilt – er verglich sie mit dem Vorgehen der Vereinigten Staaten im Irak und mit dem Einmarsch Hitlers und Stalins in Polen –, neigt aber dazu, die Hauptverantwortung für den Krieg den USA und der NATO zuzuschieben. Es ist unklar, wie er zu dem Recht der Ukraine steht, Waffen zur Selbstverteidigung zu erhalten.

Die anarchistische Linke hat die russische Invasion verurteilt und unterstützt den Kampf der Ukraine gegen Russland, lehnt aber alle Staaten und deren Beteiligung ab.

Es gibt auch eine kleine Tendenz für einen „Sozialismus von unten“, die in mehreren Zeitschriften und Gruppen vertreten ist – Solidarity/Against the Current, Tempest, Spectre, New Politics und Internationalism from Below –, die sich auf die Seite der Ukraine gegen Russland stellt und das Recht der Ukraine verteidigt, Waffen zu beschaffen, wo immer sie kann. Die Tendenz für einen “Sozialismus von unten” unterstützt auch russische Antikriegsaktivist:innen.

Die Antikriegsbewegung

Im zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhundert gab es in den Vereinigten Staaten zeitweise große und mächtige Antikriegsbewegungen: gegen den Krieg in Vietnam in den 1960er und 1970er Jahren, gegen die US-Intervention in Mittelamerika in den 1980er Jahren und gegen den US-Krieg in Afghanistan und im Irak. An den Protestdemonstrationen beteiligten sich oft Zehn- oder sogar Hunderttausende. Diese Bewegungen entwickelten einen politischen Standpunkt, der die Außenpolitik des US-Außenministeriums, die Operationen der CIA sowie Militarismus und Krieg verurteilte. Zuweilen brachten diese Bewegungen auch ihre Solidarität mit den Nationen und Völkern zum Ausdruck, die vom US-Imperialismus angegriffen wurden. In den 2000er Jahren wurden diese Bewegungen von einer Gruppe namens Act Now to Stop War and End Racism (ANSWER) angeführt, in deren Zentrum die Workers World Party und später eine Abspaltung von ihr namens Party of Socialism and Liberation standen, die beide eine stalinistische Politik verfolgten. Als Barack Obama zum Präsidenten gewählt wurde und ein Parteitag der Demokraten versprach, die Kriege in Afghanistan und im Irak zu beenden, gingen die Antikriegsbewegungen zurück.

Es gibt nur noch eine kleine Antikriegsbewegung in den USA, vielleicht ein paar hundert lokale Organisationen mit insgesamt nur Hunderten von Mitgliedern. Sie halten weiterhin an der historischen Opposition gegen den US-Imperialismus fest, verurteilen aber nicht die imperialistischen Kriege anderer Nationen. Die mehrheitlich weiße Friedensbewegung scheut sich, Länder des Ostens oder des globalen Südens zu kritisieren, deren Bevölkerung aus People of Color besteht. Diese Reste der Antikriegsbewegung haben sich daher, von einigen Ausnahmen abgesehen, tendenziell zu einer campistischen Bewegung entwickelt, die die USA ablehnt und mit Ländern sympathisiert, die sich den USA widersetzen, selbst wenn diese autoritär sind, wie Russland, China, der Iran und Syrien.

Die wichtigste der aktuellen Antikriegsgruppen ist Code Pink: Women for Peace, die zu Diplomatie, sofortigen Verhandlungen und Frieden jetzt aufruft und Militärhilfe für die Ukraine ablehnt. Code Pink hat an der Gründung der Peace in Ukraine-Koalition mitgewirkt. Eine andere Gruppe, die kleine Gewerkschaftsgruppe U.S. Labor Against War, die einen ähnlichen politischen Ursprung in der Opposition gegen US-Kriege in der Vergangenheit hat, ist ebenfalls gegen die militärische Unterstützung durch die USA.

Was ist mit den Gewerkschaften?

Praktisch alle US-Gewerkschaften unterhalten enge Beziehungen zur Demokratischen Partei und folgen deren politischer Führung, und wenn die Demokraten die Exekutivgewalt innehaben, bedeutet dies, dass die US-Gewerkschaften ihre Vorgaben vom US-Außenministerium erhalten. In der Tat gibt es eine lange Geschichte der Zusammenarbeit des US-Außenministeriums und der CIA mit den Gewerkschaften bei Aktivitäten in Ausland. Die US-Gewerkschaften haben mit der US-Regierung nicht wegen Vietnam, Mittelamerika, Afghanistan oder Irak gebrochen. Daher ist es heute nicht überraschend, dass die AFL-CIO, der größte Gewerkschaftsverband, die Position der Regierung Biden zur Unterstützung der Ukraine teilt und ihre Solidarität mit den ukrainischen Gewerkschaften zum Ausdruck bringt. Staatliche und lokale Gewerkschaftsorganisationen erörtern nur selten außenpolitische Fragen, es sei denn, sie wirken sich direkt auf die Beschäftigungssituation aus, wie etwa in der Rüstungsindustrie. Nur selten werfen die Basisgruppen außenpolitische Fragen auf.

3. Der politische Kampf um die Ukraine

Nach den US-Kriegen in Vietnam, Mittelamerika, Afghanistan und Irak ist die Linke im Allgemeinen antimilitärisch, gegen den Krieg, gegen die CIA und das Außenministerium sowie gegen die NATO eingestellt. Diese Geschichte hat die Linke für die Entwicklung campistischer Ansichten prädisponiert. Es gibt jedoch auch eine aktive campistische und neostalinistische Linke, die in verschiedenen Organisationen vertreten ist und die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine ablehnt und autoritären Führer:innen, Parteien und Staaten zugeneigt ist.

Diejenigen von uns, die sich in den Organisationen und Zeitschriften für einen Sozialismus von unten engagieren, verfügen derzeit nicht über eine breite gesellschaftliche Basis, die es uns ermöglichen würde, auf die Entwicklungen Einfluss zu nehmen. Deshalb haben wir uns der Bildungsarbeit zugewandt, indem wir Artikel veröffentlicht und virtuelle Podiumsdiskussionen organisiert haben. Wir versuchen, mit der ukrainischen sozialistischen Organisation Sotsialniy Rukh und der ukrainischen Zeitschrift Commons zusammenzuarbeiten, indem wir ihre Aktivist:innen interviewen und einige ihrer Artikel auf unseren Websites veröffentlichen. Wir haben auch bescheidene Beiträge zur materiellen Hilfe geleistet.

Der Artikel erschien ursprünglich auf Englisch in Posle, einer Online-Publikation linker russischer Oppositioneller und wurde von Harald Etzbach für emanzipation übersetzt. Bildquelle: Posle