Interview mit der ukrainischen Linken: Zwischen Krieg und neoliberalen Angriffen

Die Linke in der Ukraine kämpft nicht nur gegen die russische Invasion, sondern auch gegen die Versuche der Regierung Selenskyjs, soziale Errungenschaften abzubauen. Im Interview mit der Antikap erklärt Tasha Lomonosova, Aktivistin und Leitungsmitglied von Sozialnyj Ruch, wie die Regierung versucht, das Arbeitsrecht zu liberalisieren, wie sich die Situation der Lohnabhängigen verschlechtert und welche Kämpfe die ukrainische Linke in dieser Situation führt.

Interview mit Tasha Lomonosova (Sozialnyj Ruch) von Ben Huber (BFS Basel); aus antikap

Antikap: Könntest du uns eine kurze Beschreibung geben, was der momentane Kriegsverlauf ist und wie die Situation der ukrainischen Bevölkerung ist?

Tasha Lomonosova: Die ukrainische Offensive versucht, die in den letzten Kriegsmonaten besetzten Gebiete zurückzuerobern, was im Osten, Nordosten und Süden geschieht. Es gibt vergleichsweise viele Dörfer, die von der russischen Armee geräumt wurden. Wir erfahren mehr über Kriegsverbrechen in diesen Gebieten, über Menschen, die verfolgt, gefoltert und getötet wurden, weil sie sich in irgendeiner Weise der Besatzungsregierung oder der Armee selbst widersetzen. Und im Süden, vor allem in der Oblast [Gebiet] Cherson, sehen wir grosse Versuche der Besatzungsmacht, Menschen gewaltsam in russische Gebiete zu vertreiben.

In den russischen Medien ist zu lesen, dass sie dies tun, weil die Ukraine das von der russischen Armee verminte Wasserkraftwerk Kachowka sprengen will. Zumindest ist dies die offizielle Erklärung des Präsidenten, die gestern [20.10.2022] veröffentlicht wurde. Es besteht die grosse Befürchtung, dass die russische Armee den Damm selber sprengen und dann behaupten wird, die ukrainische Armee habe es getan. Wenn das passiert, werden mehr als sechzig ukrainische Städte unter Wasser stehen, einschliesslich Cherson, die wichtigste Stadt in der Region.

Seit der Zerstörung der Krim-Brücke laufen massive Angriffe der russischen Armee auf die ukrainische Infrastruktur. In der letzten Woche war die offizielle Erklärung unserer Regierung, dass 30 % unserer Energieinfrastruktur zerstört sind. Sie zerstören sie jeden Tag weiter. In vielen Städten gibt es grosse Probleme mit der Stromversorgung, auch in Krankenhäusern und im öffentlichen Verkehr, nicht nur in Privathäusern.

Diese Zwangsumsiedlung der Menschen ist eine Taktik, die die russische Armee seit Beginn des Krieges anwendet. Das Grausamste, was sie tun, ist die Deportation xf Kindern aus den besetzten Gebieten. Und jetzt sehen wir diese riesige Zahl von Menschen, etwa 60.000, nach offiziellen Schätzungen der ukrainischen Seite, die aus der Region Cherson vertrieben werden könnten. Im Hintergrund laufen die ständigen Raketenangriffe auf ukrainische Städte und Wohngebiete weiter. Vor ein paar Tagen wurde zum Beispiel ein Haus in Kiew in der Nähe von meinem Wohnort von einer Drohne zerstört. Es ist einfach superbrutal. Die Drohnen sind für das Luftsicherheitssystem schwieriger zu erkennen. Sie hören sich zudem an wie ein Auto oder ein Motorrad – das macht es psychologisch noch schwieriger, denn du weisst nie, was dich erwartet. Wir können offensichtlich sehen, dass sie Wohngebiete angreifen wollen, keine militärischen Ziele. Sie tun das, ohne etwas zu verstecken.

Um das etwas zusammenzufassen: Natürlich ist die gesamte Bevölkerung stark vom Krieg betroffen, da es sich jetzt um einen ausgewachsenen Krieg handelt. Und natürlich sind die Menschen, die vor dem Krieg stärker gefährdet waren (wie ältere Menschen, Frauen, Menschen mit Behinderungen, informell Beschäftigte), noch stärker betroffen. In der Ukraine sehen wir jetzt, dass die Menschen aufgrund des Krieges an der Schnittstelle zwischen mehreren Verwundbarkeiten stehen: Die Menschen sind vertrieben, arbeitslos und der Winter steht vor der Tür. Die Arbeitslosigkeit ist wirklich enorm, die offiziellen Zahlen sprechen von 35%, die Realität ist aber schlimmer. Im Grunde genommen ist fast ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung entweder innerhalb des Landes oder in den europäischen Nachbarländern auf der Flucht. Und natürlich ist der Verlust an Wohnraum, Infrastruktur und sozialer Infrastruktur gewaltig. Vor allem im südlichen Teil der Ukraine, im Osten und im Nordosten, aber nicht nur dort.

Das Putin-Regime führt einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine, indem es die Infrastruktur und die Energieinfrastruktur angreift. Kannst du uns erklären, was innenpolitisch geschieht?

Wie gesagt, es gibt viele Risiken, mit denen die Bevölkerung irgendwie fertig werden muss. Es gibt staatliche Unterstützung, aber leider würde ich nicht sagen, dass diese ausreichend ist. Schauen wir uns die Leistungen an, die Binnenvertriebene erhalten. Das sind etwa 80 bis 140 Euro im Monat pro Familie. Oder die Situation von Arbeitslosen. Wer innert 30 Tagen keine Stelle findet, kann zu gemeinnütziger Arbeit zum Mindestlohn verpflichtet werden. Wer sich weigert, verliert den Arbeitslosenstatus und damit die staatliche finanzielle Unterstützung.

Im Grunde genommen sehen wir, dass der Staat versucht, die Höhe der Ausgaben zu reduzieren und auch die Zahl der Menschen zu verringern, die diese Mittel beantragen können.

Und gleichzeitig sehen wir, dass der Staat versucht, den Unternehmen zu helfen, indem er die Steuern senkt und Deregulierungsmassnahmen einführt. Es ist also ein Missverhältnis zwischen der Unterstützung der Unternehmen und jener der Arbeiter:innen. Das Gleiche können wir an den Änderungen im Arbeitsrecht seit Beginn des Krieges sehen. Im März wurde ein Gesetz, das die Arbeitsverhältnisse während des Kriegsrechts reguliert, eingeführt. Es erlaubt den Unternehmern, Arbeitsverträge einzufrieren oder auszusetzen, so dass die Arbeiter:innen zwar noch beschäftigt werden, aber ohne Lohn. Ausserdem beschneidet es die gewerkschaftlichen Rechte. Eine weitere Deregulierung während der Kriegszeit betrifft die Beschäftigten von KMUs. Ihre Arbeitsverhältnisse werden neu mit einem individuellen Vertrag geregelt und nicht unter dem allgemeinen Arbeitsgesetzbuch. In diesem neuen Gesetz wird alles zu einer Frage individueller Verträge. Eine massive Verschlechterung also, ein Schlag ins Gesicht der ukrainischen Arbeiter:innenklasse.

Einige Änderungen werden auch nach dem Krieg gelten. Zum Beispiel wurde im Juli ein Gesetz über atypische Beschäftigungsformen eingeführt. Es handelte sich um eine Verordnung über eine Art Null-StundenVerträge. Mit solchen Verträgen verlieren die Arbeitnehmer:innen die Garantie eines stabilen Einkommens. Ich fürchte, dass die Unternehmer die «normalen» Arbeitsverträge für loyale Arbeiter:innen behalten könnten, und Null-Stunden-Verträge für «illoyale»

Es ist also so, dass die schwächere Seite im Arbeitskonflikt gerade in dieser schwierigen Zeit noch mehr geschwächt werden soll. Die Verhandlungsmacht der Arbeitenden ist sehr gering. Und auch aufgrund der allgemeinen Situation, dass es viel Arbeitslosigkeit gibt und auch die Kaufkraft der Löhne und Gehälter sinkt, werden die Menschen irgendwie dazu gedrängt, alles zu akzeptieren. Umfragen zu den Auswirkungen des Krieges auf die Zivilbevölkerung zeigen, dass die grössten Ängste der Menschen auch stark von der wirtschaftlichen Situation herrühren – nicht allein vom Krieg oder damit, getötet oder mobilisiert zu werden. In dieser Zeit, finde ich, sollte der Staat die Arbeiter:innen mehr unterstützen und das gesamte soziale Sicherheitsnetz stärken, anstatt es zu untergraben.

«Ich denke, dass wir den Krieg gewinnen werden, aber die sozialen Folgen sind unermesslich.»

In der westlichen Linken hören wir viel über die Arbeit, die Solidaritätskollektive leisten. Wie sieht die Arbeit von euch als linker Organisation aus, abgesehen von humanitärer Hilfe?

Danke für diese Frage. Für Sozialnyj Ruch war das Hauptgebiet vor dem Krieg die Verteidigung der Rechte von Arbeiter:innen. Wir haben versucht, bestehende Gewerkschaften zu organisieren und zu politisieren. Vor dem Krieg haben wir auch individuelle Beratungen für Arbeiter:innen durchgeführt – ein paar unserer Mitglieder sind Anwälte. Manche Fälle konnten wir vor Gericht gewinnen. Abgesehen von allem, was über die Korruption in ukrainischen Gerichten und in der Ukraine im Allgemeinen gesagt wird, ist es also möglich, sich zu organisieren und auf juristischem Weg Fälle zu gewinnen, das ist wichtig zu betonen. Seit Beginn des Krieges haben wir ein Projekt namens «Trudoborona» (Arbeitsverteidigung) und im Rahmen dieses Projekts führen wir zunächst diese Beratungen fort, denn als sich das Gesetz änderte, wurde vielen Leuten sehr schnell gekündigt, einigen per Messenger App. Sie wussten nicht, ob es legal war, was mit ihnen geschah. Also haben wir diese Beratungen durchgeführt und viele Broschüren über die Rechte während dem Kriegsrecht erstellt – über Arbeitsrechte und wie man sich immer noch schützen kann. Ich denke, das ist sehr hilfreich für die Menschen.

Im Übrigen versuchen wir auch eine öffentliche Online-Kampagne gegen diese Gesetzesänderungen zu führen. In Friedenszeiten kannst du auf die Strassen gehen und Proteste organisieren. So waren auch die vorherigen Versuche, das Arbeitsgesetz zu ändern, nicht erfolgreich. Die Menschen und die Gewerkschaften gingen auf die Strasse, wir waren ein Teil davon. Gegenwärtig müssen wir unsere Kritik aber in anderen Formen äussern.

Humanitäre Hilfe zu leisten, ist uns natürlich auch wichtig. Wir versuchen vor allem, unsere bestehenden Netzwerke zu nutzen, die wir in der Ukraine und im Ausland haben, um die Mitglieder der Gewerkschaften, die mit uns verbunden sind, mit dem Nötigsten zu versorgen. Wir unterstützen auch diejenigen Gewerkschafter:innen, die in den territorialen Verteidigungseinheiten oder der Armee dienen, mit Ausrüstung und Schutzmaterial.

Eine Arbeit ist es auch überhaupt zu verstehen, was gebraucht wird. In den ersten Monaten waren es hauptsächlich Lebensmittel oder Medikamente, dann waren es mehr taktische Sachen. Schliesslich hatten wir ein grosses Problem mit verschmutztem Wasser im Süden der Ukraine. Die Wasserversorgung für Mykolajiw wurde beispielsweise durch die russische Armee im Frühling beschädigt. Und da lokales Wasser zu salzig und nicht trinkbar ist, braucht es spezielle Filter. Unsere Aktivist:innen haben dann geeignete Wasserfilter gefunden, mit denen man dieses salzhaltige Wasser filtern und trinkbar machen kann. Wir konnten die dann dank finanzieller Hilfe von Genoss:innen aus Deutschland kaufen.

Ein weiteres Feld ist die Schuldenkampagne, die wir seit Beginn des Krieges gestartet haben. Die Hauptidee war, für die Notwendigkeit der Abschreibung der ukrainischen Schulden zu werben, weil wir nicht in der Lage sind, das geliehene Geld zurückzuzahlen. Bereits vor dem Krieg war es sehr schwierig und die Schulden der ukrainischen Wirtschaft sind seit 2014 noch deutlich gewachsen. Würde man die aktuellen Schulden bei internationalen Institutionen auf alle Einwohner:innen verteilen, käme das auf 65.000 Griwna pro Kopf, was mehr als 16.000 Euro sind – ein immenser Betrag. Wie soll das jemals zurückgezahlt werden? Was wir in dieser Kampagne zu zeigen versuchen, ist, dass diese «Hilfe», die wir bekommen, in vielen Fällen eigentlich keine ist. Es sind an Bedingungen geknüpfte Kredite. Und die Bevölkerung muss sie bezahlen, indem das Haushaltsbudget zusammengestrichen wird und soziale Errungenschaften abgebaut werden. Alle diese innenpolitischen Massnahmen hängen mit den Schulden zusammen. Diese Schulden sollen deshalb im Interesse der ukrainischen Bevölkerung restrukturiert werden.

«Was wir mit dieser Kampagne gegen Schulden zu zeigen versuchen, ist, dass die „Hilfe„, die wir bekommen, eigentlich keine ist. Es ist ein an Bedingungen geknüpfter Kredit und die Bevölkerung muss ihn bezahlen.»

Wenn wir davon ausgehen, dass die Ukraine den Krieg gewinnt – was ist die Rolle der linken Bewegung im Prozess des Wiederaufbaus der Ukraine als souveränem Staat?

Dass die Ukraine gewinnen wird, ist für mich eine Tatsache. Die grosse Frage ist, wie die politische Situation nach dem Krieg aussehen wird. Da sind die Dinge sehr unvorhersehbar.

Es gibt diese klare neoliberale Stossrichtung, aber welche Kräfte werden schlussendlich an die Macht kommen? Diese Frage hängt auch mit der Frage der Waffen zusammen. Werden die Menschen ihre Waffen behalten? Und werden die Leute, die jetzt kämpfen, sei es in der Armee oder in der territorialen Verteidigung, ein gemeinsames Interesse erkennen, für ein politisches Projekt zu kämpfen? Welche politische Organisation wird diesen Gruppen eine Orientierung bieten können und deren Bedürfnisse kanalisieren? Eine weitere Frage ist, wie die jetzt besetzten Gebiete wieder in die Ukraine integriert werden.

Es ist natürlich auch eine grosse Frage, ob der politische Prozess in der Ukraine allgemein demokratisiert werden wird. Natürlich sind die Wahlen formal demokratisch, aber die Möglichkeiten, wirklich Politik zu machen, sind stark eingeschränkt für jene ohne Geld im Rücken. Ich denke, die Situation wird sich nicht gross ändern. Ich denke nicht, dass die Linke viel Erfolg haben wird in der politischen Arena. Ich denke eher, dass die alten Eliten die politische Stimme der Veteranen hinter sich vereinigen und somit ihre Macht behalten werden. Gleichzeitig, wenn der Krieg noch auf unbestimmt weitergeht, führt das zu noch mehr Armut und die Klassenspaltungen werden sich vertiefen. Diese Spaltungen könnten auch eine politische Form annehmen – welche können wir nicht wissen.

Die politische Richtung vorherzusagen ist also schwierig und hängt auch von den globalen Veränderungen ab. Der Krieg führt nicht einfach zur sozialen Revolution, auch nationalistische Kräfte können Auftrieb erhalten. Ich bin vielleicht etwas zu pessimistisch. Ich denke, dass wir den Krieg gewinnen werden, aber die sozialen Folgen sind unermesslich. Diese Konsequenzen mit konkreten politischen Vorschlägen zu adressieren, wird die Hauptaufgabe jeder politischen Bewegung sein.