Putinismus: Eine neue Form von Faschismus

Nach dem 24. Februar, als Putins Russland eine umfassende militärische Invasion in der Ukraine startete, sah sich die Welt nicht nur mit einer Herausforderung für die geopolitische Hegemonie des Westens konfrontiert. Hinter der aggressiven Politik des Kremls steht eine Logik, die auf der klassischen imperialistischen Ideologie beruht, der zufolge die Beziehungen zwischen Ländern ausschließlich auf der Herrschaft des Stärkeren beruhen. Wladimir Putin kritisierte in seinen Grundsatzreden die militärischen Interventionen der USA im Irak oder in Afghanistan. Er widersprach vor allem dem Anspruch Washingtons auf das alleinige Recht, imperiale Interventionen durchzuführen, seinen Einflussbereich auszuweiten und andere Mächte zu verurteilen, die es wagen, dasselbe zu tun. Seine Herausforderung dem Westen gegenüber, bestand darin, die „Heuchelei“ der USA zu entlarven. Warum dürfen sie tun, was andere nicht dürfen?

Was bisher dem US-Imperialismus vorbehalten war, so Putin, muss nun zum einzigen anerkannten Gesetz der internationalen Politik werden (Putin 2022). In seiner Weltanschauung sind nur einige Staaten „organisch“ dazu bestimmt, Imperien mit „souveräner“ Befugnis Kriege zu führen, während andere dazu bestimmt sind, „Kolonien“ zu sein, also Objekte, die kontrolliert und erobert werden müssen. Das Recht solcher „souveräner“ Staaten äußere Willkür auszuüben, entspricht ihrem Recht innere Willkür auszuüben: Wenn sich hinter jedem Recht nur nackte Gewalt verbirgt, dann hängen auch Menschenrechte oder das Recht auf demokratische Repräsentation zwangsläufig von Gewalt ab. Damit sind sie lediglich eine Waffe, die zur äußeren Einflussnahme eingesetzt wird.

Aus dieser imperialen Logik folgt zwangsläufig eine konsequente antirevolutionäre und antidemokratische Haltung der russischen Elite: Alle Proteste und Aufstände werden stets von außen durch feindliche Mächte gesteuert, von den Demonstrationen der russischen Opposition 2011 über den Arabischen Frühling bis hin zur Russischen Revolution von 1917, die Putin ebenfalls als Ergebnis ausländischer Geheimdienstaktivitäten betrachtet (Putin 2014a). Es ist leicht zu beobachten, dass ein solches ideologisches Schema Staaten wie Individuen betrachtet, die in einer kapitalistischen Marktgesellschaft ebenfalls in einem ständigen Kampf um Erfolg, Dominanz und Anerkennung gegeneinanderstehen.

Für Staaten, nationale Gemeinschaften und einzelne Menschen gilt dasselbe Naturgesetz: Entweder man setzt sein Existenzrecht auf Kosten eines anderen durch, oder man wird dessen Opfer. Heutzutage hat sich diese Ideologie in Putins Russland endgültig von einer Rhetorik in eine Machtpraxis verwandelt, die sich nicht nur auf reaktionäre oder chauvinistische Ideen in einem Teil der russischen Gesellschaft stützt, sondern auch auf die gesellschaftlich vorherrschende neoliberale Marktrationalität. Aufgeteilt in getrennte und gegeneinanderstehende Individuen wird eine solche Gesellschaft zum gehorsamen Material in den Händen der Eliten. Sie akzeptiert ihre eigene Hilflosigkeit und Unfähigkeit zu solidarischem Handeln als Folge eines vermeintlich unveränderlichen historischen Schicksals und unbestreitbarer quasi-organischer Gesetze, die das gesellschaftliche Leben bestimmen.

Der Einmarsch in die Ukraine stellte in Putins Russland endgültig eine untrennbare Verbindung zwischen Außen- und Innenpolitik her, wobei das Eine die unvermeidliche Fortsetzung des Anderen ist. Der Krieg leitete die Umwandlung des russischen Regimes in eine qualitativ neue Form ein – eine Diktatur, in der jede öffentliche Äußerung, die von der offiziellen Politik abweicht, ein Verbrechen ist, und jeder Versuch kollektiv zu handeln, einem Verrat am Nationalstaat gleichkommt. Diese Verknüpfung einer Atmosphäre der Angst und Unterordnung mit Chauvinismus und imperialistischer Aggression, sowie die vollständige Gleichsetzung des Willens der Nation mit den Entscheidungen des autoritären Führers, hat in den letzten Monaten viele dazu veranlasst, Putins Russland – meiner Meinung nach völlig zu Recht – mit dem Faschismus zu vergleichen.

Verwendung des “F-Wortes”

Bei der Verwendung des gefährlichen „F-Wortes“ in der Gesellschaftsanalyse muss jedoch geklärt werden, wie es zu verwenden ist und wie nicht. Erstens sollten wir „Faschismus“ nicht als Synonym für das absolut Böse verwenden, gegen das sich die „freie Welt“ zusammenschließen sollte. Diese Moralisierung des Faschismus ist nichts anderes als eine Rückkehr zu den binären Gegensätzen des Kalten Krieges, in denen der Sowjetkommunismus mechanisch durch “Putins Faschismus” als äußerer Feind des Westens ersetzt wird.

Zweitens sollte sich eine Analyse des gegenwärtigen Faschismus in Russland (wie auch der faschistischen Tendenzen außerhalb Russlands) nicht auf spekulative historische Analogien stützen. Es sollte daran erinnert werden, dass der Aufstieg des Faschismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch eine Kombination einzigartiger historischer Umstände bestimmt wurde und dass seine Doktrin widersprüchlich und eklektisch war. In diesem Sinne kann man der Aussage des französischen Historikers Pierre-Henri Tagieff vollkommen zustimmen:

“Weder „Faschismus“ noch „Rassismus“ werden uns den Gefallen tun, so zurückzukehren, dass wir sie leicht erkennen können. Wäre Wachsamkeit nur ein Spiel des Wiedererkennens von etwas bereits Bekanntem, dann wäre sie nur eine Frage des Erinnerns. Wachsamkeit würde sich auf ein gesellschaftliches Spiel der Erinnerung und Identifizierung durch Wiedererkennung reduzieren, eine tröstliche Illusion einer unbeweglichen Geschichte voller Ereignissen, die unseren Erwartungen oder unseren Ängsten entsprechen.”(Taguieff 1994) [Übersetzt aus dem Englischen]

Schließlich, und das ist vielleicht am wichtigsten, sollte die Anwendung des Faschismuskonzepts auf das gegenwärtige russische Regime nicht zu dessen Exotisierung führen, zu der Vorstellung, dass die „Faschisierung“ des postsowjetischen Russlands ein Einzelfall sei, der angeblich durch die besondere Geschichte des Landes vorbestimmt sei. Im Gegenteil, die Charakterisierung von Putins Regime als faschistisch sollte uns helfen, gemeinsame Merkmale der verschiedenen Strömungen der extremen Rechten zu erkennen, die aus der Krise der neoliberalen kapitalistischen Ordnung hervorgegangen sind. Ich bin davon überzeugt, dass die Charakterisierung Russlands als faschistisch nur dann gerechtfertigt ist, wenn wir es als ein alarmierendes Zeichen für globale Trends betrachten, die zur Bildung ähnlicher Regime auf internationaler Ebene, auch in der westlichen Welt, führen können. All dies bringt uns unweigerlich dazu, sowohl das Phänomen des Faschismus selbst zu überdenken als auch die spezifische Entwicklung des Putin-Regimes als integralen Bestandteil des kapitalistischen Weltsystems zu verstehen.

Definition des Faschismus: Doktrin, Bewegung oder Regime?

In der umfangreichen historischen und politisch-philosophischen Literatur zum Faschismus lassen sich drei Ansätze unterscheiden, von denen der erste den Faschismus in erster Linie als Ideologie (oder vielmehr als eine Reihe ideologischer Merkmale), der zweite als radikale Massenbewegung und der dritte als eine besondere Form der Herrschaft, eine grundlegend neue Form des politischen Regimes und ganz allgemein der gesellschaftlichen Macht betrachtet.

So versucht der Historiker Roger Griffin mit seiner berühmten Definition des Faschismus als „palingenetischer Ultranationalismus“[1], den Faschismus normativ zu definieren, seinen „Idealtypus“ abzuleiten und ihn damit von anderen autoritären Formen zu unterscheiden. Faschismus, so Griffin, sei immer mit folgenden Merkmalen verbunden: Wiederbelebung der verlorenen Größe der Nation, eine revolutionäre Ablehnung früherer Formen der Legitimität, die Pflege einer organischen Idee der nationalen Gemeinschaft und die Durchführung von Massenmobilisierungen zur Durchsetzung der Ordnung im In- und Ausland (Griffin 2012). Anhand der jüngsten Debatten darüber, ob Putins Regime faschistisch ist, lassen sich die Grenzen dieses Ansatzes deutlich erkennen.

In einem etwas sensationslüsternen Meinungsartikel in der New York Times versucht Timothy Snyder beispielsweise, die ideologischen Grundlagen des derzeitigen russischen Regimes zu ergründen (Snyder 2022). Dabei übertreibt er den Einfluss der Bücher von Iwan Iljin, dem Ideologen der Weißen, den konterrevolutionären Emigranten der 1920er und 30er Jahre, auf Putin. Außerdem entdeckt er in der militaristischen Rhetorik des russischen Präsidenten einen „Todeskult“, der dem des rumänischen Faschistenführers Corneliu Zelea Codreanu aus der Zwischenkriegszeit ähnele. Snyders Kritiker wiederum machen darauf aufmerksam, dass der Putin‘sche Staat nicht wie der „klassische Faschismus“ auf einer ideologisch motivierten Massenmobilisierung beruhe (Golosov 2022).

Es liegt auf der Hand, dass eine solche normative Definition des Faschismus, die sich auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Reihe spezifischer Merkmale stützt, von der Analyse des Regimes selbst und seiner historischen Entwicklung ablenkt. Es besteht kein Zweifel daran, dass Putin während der gegenwärtigen Invasion der Ukraine in seinen Reden ein ausgeklügeltes ideologisches Programm dargelegt hat, das der russischen Propaganda einen äußerst reaktionären Rahmen verleiht. Als Putin vor zwanzig Jahren an die Macht kam, war er jedoch eindeutig kein ideologischer Mensch, und seine praktische Politik wurde nicht von der Loyalität zu einer Doktrin geleitet.

Im Gegenteil, man könnte sagen, dass sich seine Ansichten als eine Synthese praktischer Wahrheiten herausgebildet haben, die er durch die strukturellen Positionen, die er im Laufe seiner Karriere einnahm, angepasst und verinnerlicht hat. Seine frühen Jahre in den sowjetischen Sicherheitsdiensten lehrten ihn konspiratives Denken. Seine Anleitung des Privatisierungsprozesses als stellvertretender Bürgermeister von St. Petersburg in den 1990er Jahren schulte ihn in der Moral der Gewalt und der nackten Herrschaft, die für halbkriminelle Unternehmen und die Mafia, mit der er eng verbunden war, typisch ist.

Die langen Jahre an der Macht als unangefochtener autokratischer Führer flößten ihm schließlich eine Vision seiner eigenen messianischen Bestimmung als Wiederhersteller Russlands verlorener geopolitischer Macht ein. Es war nicht die Ideologie, die Putins Praxis bestimmte, sondern die Praxis, die ihn dazu zwang, sich eine Vielzahl von ideologischen „Wahrheiten“ anzueignen, die er für selbstverständlich hält. Sorgfältig in Putins Reden eingefügte Zitate reaktionärer Denker bestätigten nur die Schlussfolgerungen, die der russische Führer aus seiner Lebenserfahrung zog.

Die Widersprüche und Brüche einer solchen Ideologie sind durch ihren Charakter als „materielle praktische Tätigkeit“ bestimmt, wie Louis Althusser (1970) es ausdrückte. Diese Vorstellung von einer Ideologie, die durch die Praxis der Macht bestimmt wird, trifft auf den Faschismus als historisches Phänomen im Allgemeinen zu. So zeigt der Historiker Robert O. Paxton, dass sich die Stellungnahmen faschistischer Bewegungen immer sehr von der Praxis der faschistischen Führer nach ihrer Machtübernahme unterschieden haben (Paxton 2004).

Diese Stellungnahmen bildeten kein kohärentes Ganzes, sondern bestanden aus einem willkürlichen Bündel von Parolen, die sich an verschiedene gesellschaftliche Gruppen richteten und je nach der Konjunktur des politischen Kampfes geändert wurden. Darüber hinaus wurde der ideologische Eklektizismus des Faschismus von den faschistischen Führern selbst zum ideologischen Prinzip erhoben, die nicht müde wurden zu wiederholen, dass sie sich auf das wahre „Leben“ und nicht auf abgehobene Doktrinen stützten. Für sie ist „Theorie ein Gefängnis“, wie es Benito Mussolini in seinem berühmten Spruch ausdrückte.

Das eigentliche Programm des Faschismus offenbart sich vor allem in seiner Praxis als Regime, die wiederum nie einfach eine Erweiterung des Faschismus als Bewegung zur Machtergreifung war. Wie Paxton argumentiert, bildeten die faschistischen Regime in Deutschland und Italien eine komplexe Synthese aus totalitären Parteien, dem alten Staatsapparat und der Rationalität der traditionellen Führungseliten (Armee, Bürokratie, Kirche usw.), die eine Art „Doppelstaat“ bildeten (Paxton 2004). Diese Synthese hat nie einen monolithischen Charakter angenommen, und die Krise der faschistischen Regime wurde immer durch ihre inneren Widersprüche ausgelöst. So waren an dem Komplott gegen Hitler im Jahr 1944 führende Mitglieder der militärischen Elite beteiligt. Die Entmachtung Mussolinis im Jahr 1943 erfolgte durch den inneren Kreis von König Viktor Emanuel (sowie durch einige Fraktionen der faschistischen Führung), der zuvor ein integraler Bestandteil des Regimes gewesen war.

Faschismusforscher, für die der Faschismus in erster Linie eine Massenbewegung darstellte (z. B. Ernst Nolte), sahen in ihm eine Gegenkraft zur revolutionären Bedrohung durch eine organisierte Arbeiterbewegung und sozialistische Parteien. Auf diese Weise schien es, als würden sie den alten bürgerlichen Staat ersetzen, der sich aus eigener Kraft nicht zu verteidigen vermochte. Natürlich lässt sich eine solche konterrevolutionäre Ausrichtung nicht leugnen.

So war beispielsweise der italienische Faschismus der frühen 1920er Jahre eine direkte gewaltsame Reaktion auf eine massive Streikbewegung und die spontane Gründung von Arbeiter:innenräten in den wichtigsten Industriezentren des Landes. Der Aufstieg Mussolinis und Hitlers zur Macht wäre jedoch nicht möglich gewesen, wenn die traditionellen Eliten nicht kollektiv beschlossen hätten, sie zu unterstützen. Dort, wo die herrschenden Klassen keine Notwendigkeit für eine faschistische Umgestaltung sahen – wie zum Beispiel in Frankreich, Großbritannien oder Rumänien –, wurden die faschistischen Bewegungen trotz der Aussicht auf zunehmenden Einfluss in den 1930er Jahren schließlich besiegt.

Daher können wir der Aussage des Politikwissenschaftlers Alexander J. Motyl voll und ganz zustimmen, dass „der Schlüssel zum Verständnis dessen, was Faschismus ist, darin liegen könnte, zu verstehen, was faschistische Herrschaft ist“ (Motyl 2016: 28). Wenn, wie Merleau-Ponty schrieb, „Revolutionen als Bewegungen wahr und als Regime falsch sind“ (Lawlor und Toadvine 2007: 296), dann kann man in Bezug auf den Faschismus das Gegenteil behaupten: Seine wahre Bedeutung und seine Ziele offenbaren sich gerade als ein Regime staatlicher Macht, während seine Merkmale in Form einer Ideologie oder Bewegung unvollständig und irreführend erscheinen.

Der heutige Faschismus von oben

Definiert man den Faschismus als ein Regime, für das ideologische Merkmale oder eine vorangegangene Massenbewegung sekundäre und optionale Merkmale sind, kann man das Phänomen universalisieren. Für einen solchen universellen Ansatz stellt der Faschismus keine irrationale Abweichung vom magistralen rationalen Pfad der westlichen Zivilisation dar (wie Wissenschaftler:innen, die dem liberalen intellektuellen Mainstream angehören, zu glauben pflegen), sondern ein Phänomen, das sich direkt aus der Natur der Marktgesellschaft ergibt.

Am deutlichsten hat dies der Soziologe Karl Polanyi zum Ausdruck gebracht, der in seinem Meisterwerk The Great Transformation im Faschismus das Streben nach dem endgültigen Sieg der kapitalistischen Logik über jede Form der Selbstorganisation und Solidarität in der Gesellschaft sah (Polanyi 1973). Das Ziel des Faschismus, so Polanyi, sei die vollständige gesellschaftliche Atomisierung und Auflösung des Individuums in der Produktionsmaschine. Der Faschismus war also mehr als nur eine Reaktion auf die Gefahr revolutionärer antikapitalistischer Bewegungen von unten. Er war untrennbar mit der endgültigen Durchsetzung der Herrschaft der Wirtschaft über die Gesellschaft verbunden. Sein Ziel war nicht nur die Zerstörung der Arbeiter:innenparteien, sondern generell jeglicher Elemente der demokratischen Kontrolle von unten.

Polanyi beschrieb den Faschismus nicht als eine „Bewegung“, sondern als einen „grundlegenden Übergang“, einen Konsens zwischen den Eliten als Reaktion auf die Wirtschaftskrise, um eine Alternative zum Sozialismus zu schaffen. Im Gegensatz zu den bekannten Komintern-Thesen war diese Antwort gemäß Polanyi jedoch keine direkte Reaktion auf die Gefahr einer sozialen Revolution, sondern tief in der Natur der Industriegesellschaft mit ihrem grundlegenden Widerspruch zwischen kapitalistischem Markt und Demokratie verwurzelt. Der Faschismus stellte somit eine radikale Auflösung dieses inhärenten Widerspruchs („Doppelbewegung“ in Polanyis Worten) durch eine Neudefinition der „menschlichen Natur“ dar, die auf einer grundlegenden Negation der Einheit der Menschheit beruht.

In seiner Analyse betonte Polanyi, dass „die faschistische Situation der revolutionären Situation ähnlich ist“, und dass dieser „grundlegende Übergang“ der Eliten nur „in einer komplexen Krise der demokratischen Institutionen“ möglich wird. Der Faschismus entwickelt sich also in einer Zeit umfassender wirtschaftlicher und politischer Krise, wenn der Widerspruch zwischen den Interessen der Gesellschaft und denen des Marktes so akut wird, dass kein vorübergehendes Gleichgewicht zwischen beiden mehr möglich ist. Deshalb war für Polanyi die Hinwendung zum Faschismus eine direkte Folge der Weltwirtschaftskrise, die er als das Ende der marktwirtschaftlichen „Zivilisation des neunzehnten Jahrhunderts“ ansah.

Die heutige Krise des neoliberalen „Spätkapitalismus“ schafft ähnliche Widersprüche und eine politische Tendenz zum Faschismus von oben als Lösung, um Ordnung in einem krisengeschüttelten System durchzusetzen. Natürlich entwickelt sich diese Tendenz nicht einheitlich oder gleichzeitig in anderen Teilen der Welt. Und warum? Weil die ungleiche und kombinierte Entwicklung des globalen Kapitalismus und seine Krisen keine homogene Zeitlichkeit hervorbringen. Aus verschiedenen strukturellen Gründen ist Russland zum „schwächsten Glied“ in dieser Krisenepoche geworden, was Putin dazu brachte, die gelenkte Demokratie zugunsten des Faschismus aufzugeben.

Dieser Regimewechsel ging mit der Zerstörung aller politischen Institutionen einher, die die direkte Durchsetzung des Herrscherwillens von oben vermittelten. Im heutigen Russland gibt es keinen „politischen Staat“ in dem Sinne, dass ein Gericht, ein Parlament oder eine lokale Regierung über irgendeine Art von relativer Autonomie verfügt. Alle Institutionen führen Befehle aus, die von oben kommen.

Diese vollständige Unterordnung aller staatlichen Institutionen unter den „Willen des Souveräns“ war charakteristisch für Hitlers Regime in Deutschland. Bekanntlich war eines der ersten Dekrete Hitlers nach seiner Machtergreifung die Einführung des „Ausnahmezustands“ (nach Carl Schmitts berühmter Definition „ein Gesetz, das alle anderen Gesetze aufhebt“), der bis zum Zusammenbruch der Naziherrschaft im Jahr 1945 in Kraft blieb.[2] Die Aushöhlung der demokratischen Institutionen und Elemente eines „Ausnahmezustands“ sind heute beispielsweise in Regimen wie denen von Narendra Modi in Indien, Recep Erdogan in der Türkei und Viktor Orban in Ungarn zu beobachten.

Im Gegensatz zu Putins Russland sind diese jedoch eher Ausdruck eines potenziellen Faschismus als einer bereits vollzogenen Transformation. In all diesen Ländern gibt es noch eine Teilautonomie der Gesellschaft und der politischen Institutionen. Aus demselben Grund ist es unmöglich, die vierjährige Amtszeit von Donald Trump als faschistisches Regime zu betrachten. Obwohl in dieser Zeit faschistische Organisationen und extrem reaktionäre Bewegungen entstanden sind, hat sich das politische System der USA selbst nicht grundlegend verändert.

Atomisierung und Entpolitisierung der Gesellschaft

Um als faschistisch zu gelten, müssten solche Gesellschaften selbst unter rechtsextremen Regierungen eine qualitative Transformation durchlaufen. Hannah Arendt beleuchtete die Tiefe dieser Transformation in ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, in dem sie zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Polanyi kam, obgleich aus einer anderen theoretischen Perspektive (Arendt 1973). Sie argumentierte, dass der Faschismus keine direkte Beziehung zu einer früheren intellektuellen Tradition habe und kein politisches, sondern ein soziales Phänomen darstelle, das die extreme Verwirklichung der wichtigsten Tendenzen der Moderne – die Atomisierung der Gesellschaft und die Zerstörung aller Formen von Öffentlichkeit – zum Ausdruck bringe.

Für Arendt besteht das Wesen der faschistisch-totalitären Gesellschaft nicht in der Durchdringung des gesamten gesellschaftlichen Lebens mit Politik, sondern in der ultimativen Entpolitisierung, dem Verschwinden jeder Vorstellung eines „gemeinsamen Interesses“. Diese passive und demobilisierende Rolle des Faschismus wurde von Walter Benjamin perfekt erfasst. In der Schlussfolgerung seines Buches Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit schrieb Benjamin (1968: 214-18), dass der Faschismus „die Politik ästhetisiert“, das heißt, er macht die Menschen zu faszinierten Zuschauer:innen, zu entfremdeten Konsument:innen der Politik als Spektakel, während der Kommunismus im Gegensatz dazu „die Ästhetik politisiert“, indem er das kulturelle Spektakel zu einem Ort der direkten kreativen Beteiligung der Massen macht. Das faschistische Spektakel hat einen ausschließlich hierarchischen Charakter – es ist eine diktatorische Inszenierung, in der alle die ihnen zugewiesenen Rollen mit äußerster Disziplin und Gehorsam erfüllen müssen.

Heute wird dieser Zustand in Russland durch die „Solidaritätsaktionen“ symbolisiert, die der Staat für die russische Armee inszeniert. Dazu gehören Veranstaltungen, bei denen sich Angestellte des öffentlichen Dienstes und Studierende in Form des Buchstabens Z aufstellen, dem unheilvollen Symbol der russischen Aggression. Dieses politische Spektakel ist das genaue Gegenteil jeglicher Mobilisierung von unten, auch der extremen Rechten. Die russischen Behörden haben im März dieses Jahres sogar unabhängig organisierte, anti-ukrainische Demonstrationen brutal unterdrückt.

Der Ausdruck der Massenunterstützung für den Krieg kann und soll nur in strengen, von oben genehmigten Formen erfolgen: patriotische Konzerte und von den Behörden organisierte „Flashmobs“. Diese Ornamente der Massen haben dieselbe Bedeutung wie vor einem Jahrhundert, als Siegfried Kracauer darüber in seinem berühmten Essay „Das Ornament der Masse“ schrieb – die Auflösung des Individuums in einzelne körperliche Elemente, die sich in den Prozess der kapitalistischen Produktion sowie der ideologischen Reproduktion einfügen (Kracauer 2005).

Mit anderen Worten, wir haben es nicht nur mit den Ergebnissen der Aufspaltung der Gesellschaft in Atome zu tun, sondern auch mit der Aufspaltung des Menschen in Teile, die in die politische und wirtschaftliche Maschine eingegliedert sind und deren Rationalität diszipliniert wird. Die Marktrationalität, die darauf abzielt, die menschliche Persönlichkeit zu spalten (oder zu objektivieren, wie Georg Lukacs sagt), wird bis an ihre logische Grenze getrieben und erstreckt sich sogar auf die Organisation von Politik und Gesellschaft. Wenn es in der Natur des Menschen liegt, um die Vorherrschaft über seinesgleichen zu kämpfen, dann liegt es in der Natur des Staates, dass er ein einheitlicher Körper ist (das heißt ein „Ornament“ aus Fragmenten menschlicher Körper). Er ist eine „Entität“, die sich in einem existenziellen Kampf mit anderen „Entitäten“ befindet. Begriffe wie Kultur und Souveränität werden in einem solchen Weltbild nur auf die Qualität von Attributen dieses Wesens des Staats reduziert.

Der faschistische Staat und das Kapital

Der Faschismus stellt somit eine völlig neue Form des bürgerlichen Staates dar, der direkt mit dem Kapital verschmilzt – man könnte sogar sagen, dass das Kapital im Faschismus schließlich die Form des Staates annimmt. Der Staatsapparat thront nicht mehr über der Gesellschaft, indem er zwischen den verschiedenen Klasseninteressen ausgleicht und als Schiedsrichter fungiert (ein Merkmal beispielsweise des klassischen „Bonapartismus“). „Der Sieg des Faschismus führt dazu“, um Trotzki zu zitieren, „daß das Finanzkapital sich direkt und unmittelbar aller Organe und Einrichtungen der Herrschaft, Verwaltung und Erziehung bemächtigt: Staatsapparat und Armee, Gemeindeverwaltungen, Universitäten, Schulen, Presse, Gewerkschaften, Genossenschaften. „Die Faschisierung des Staates bedeutet […] vor allem und hauptsächlich die Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen, Zurückwerfung des Proletariats in amorphen Zustand, Schaffung eines Systems tief in die Massen dringender Organe, die eine selbständige Kristallisation des Proletariats unterbinden sollen. Darin besteht das Wesen des faschistischen Regimes.“ (Trotzki 1932)

Der deutsche Sozialdemokrat Franz Neumann vertrat in seinem berühmten Buch The Behemoth ein ähnliches Verständnis des faschistischen Staates (Neumann 1983). Für Neumann ist der Faschismus die unmittelbare Macht des Kapitals, das den Staat als vermittelnde Kraft nicht mehr benötigt. Unter Rückgriff auf marxistische Imperialismustheorien zeigt Neumann, dass der Übergang zum Nationalsozialismus durch die Stellung des deutschen Kapitalismus vorbestimmt war, der in einer Ära der imperialistischen Neuaufteilung der Welt von externen Märkten abgeschnitten war.

Die Haupttendenz im Lande war die Monopolisierung der Industrie und die Umwandlung der absoluten Mehrheit in Proletarier:innen, die sowohl als Soldat:innen als auch als Arbeiter:innen eingesetzt werden konnten. Neumann vertrat die Ansicht, dass das Kapital in seiner endgültigen Form mit dem Staat verschmolzen sei und weder einen freien Handel noch einen freien Arbeitsmarkt benötige. Die schwächeren Unternehmen wurden nicht in ein Verhältnis der formalen Gleichheit mit den größeren gesetzt – sie wurden vom Staat als ineffizient eingestuft, und ihr Eigentum wurde unter den Kartellen umverteilt (die Konfiszierung jüdischen Eigentums erfolgte ebenfalls in dieser Logik).

Unter faschistischer Herrschaft wird das Eigentum nicht durch das Gesetz, sondern durch einen Verwaltungsakt garantiert. Mit anderen Worten: Die privaten Eigentumsrechte werden nicht durch eine allgemeine Norm, sondern durch eine besondere Entscheidung des Souveräns festgelegt. Zwischen dem Politischen (dem Staat) und dem Ökonomischen (dem Kapital) verschwindet somit jede Unterscheidung, und die tatsächliche Ungleichheit der Rechte, die den Kapitalismus kennzeichnet, wird nicht mehr durch die Fassade einer formalen, vom Staat garantierten rechtlichen Gleichheit verschleiert.

Die von Hitler proklamierte Vollbeschäftigung, so zeigt Neumann, machte es möglich, den Arbeiter:innen jegliche Wahlfreiheit zu nehmen – sie haben weder kollektive noch individuelle Rechte und sind gezwungen, sich in das organische Ganze ihres Unternehmens einzufügen. Auf diese Weise wird die Nazi-Formel „Politik über Wirtschaft“ in die Praxis umgesetzt, in dem Sinne, dass das Kapital die Notwendigkeit freier Märkte und des Wettbewerbs überwindet und den Staat zu einem Instrument seiner eigenen Expansion macht. So schafft der Faschismus ein neues Verhältnis zwischen Kapital und Staat.

Natürlich schafft die Fusion keine Homogenität und Identität zwischen den beiden. Vielmehr passen sie sich der Logik des jeweils anderen an. Vom Holocaust beispielsweise kann nicht gesagt werden, dass er im „Interesse“ des deutschen Kapitals lag, aber er wurde in völliger Übereinstimmung mit der kapitalistischen Managementrationalität durchgeführt und repräsentierte die kapitalistische Produktionsmaschine in ihrer extremen monströsen Form (was der Soziologe Zygmunt Bauman (1992) in seinem Buch Dialektik der Ordnung: Die Moderne und der Holocaust brillant erklärte).

Faschismus und seine Verwandten

Es ist auffällig, wie ähnlich Neumanns Erklärung des Hitlerismus jener des „autoritären Kapitalismus“ ist, die von intellektuellen Idolen der amerikanischen Alt-Right wie Nick Land oder Curtis Yarvin vertreten wird (Land 2013). Die „Beschleunigung“ des Kapitalismus wird diesen Autoren zufolge unweigerlich dazu führen, dass die Staaten jegliche Rechtsautonomie und demokratische Legitimität aufgeben. Der demokratische Staat mit seiner falschen formalen Gleichheit von Starken und Schwachen werde durch eine unternehmensähnliche, hierarchisch von Managern geführte Struktur ersetzt, die durch natürliche Auslese absolute Macht erlangt habe.

Für Land kann diese Art von Staat im Wesentlichen nicht durch politischen Kampf und die Schaffung einer Massenbewegung erreicht werden, sondern durch die „Beschleunigung“ der kapitalistischen Wirtschaft, deren Entwicklung alle politischen Formen überwindet und vernichtet. Diese autoritär-libertäre Utopie sieht paradoxerweise wie eine Umkehrung des Putinschen Staatskapitalismus aus, mit seiner unverbrüchlichen Verbindung zwischen Eigentumsrechten und politischer Macht und der tief verwurzelten Vorstellung vom „aristokratischen“ und kastenartigen Charakter der staatlichen Bürokratie (mit dem Sicherheitsdienst an der Spitze der hierarchischen Pyramide).

Die seltsame Ähnlichkeit zwischen den Weltanschauungen von Putins „Silowiki“ (Mitglieder des staatlichen Repressionsapparats) und den Fans von Land aus dem Silicon Valley lässt sich kaum durch eine gemeinsame ideologische Erziehung oder ein gemeinsames Leseumfeld erklären. Sie haben zwar ähnliche Vorstellungen vom Staat, aber Land zitiert Hobbes und Deleuze, während Putin Iljin oder Dostojewski zitiert. Intellektuelle Referenzen sind hier sekundär. Zentral ist eine Form faschistischer Rationalität, die aus den unbewussten ideologischen Praktiken des neoliberalen Kapitalismus verinnerlicht wurde und für die von ihm hervorgebrachte Art von Subjektivität charakteristisch ist.

Der heutige Faschismus braucht keine reaktionären Massenbewegungen mehr. Er braucht keine bürgerkriegsähnlichen Methoden, um die organisierte Arbeiter:innenklasse zu zermalmen und sie mit Gewalt auf einen „amorphen Zustand“ herabzudrücken. Diese Arbeit ist in den letzten Jahrzehnten seit der neoliberalen Wende in den westlichen Ländern und den „schocktherapeutischen“ Marktreformen in den 1990er Jahren in den postsozialistischen Staaten weitgehend erledigt. Alles, was es braucht, ist ein „Schlag“ von oben, der jede Form von demokratischer Beteiligung endgültig begräbt und dem Kapital eine diktatorische Staatsform verleiht. Wie der alte Faschismus ist auch der Faschismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts ein Trend, der in der Krise des globalen Kapitalismus entstanden ist.

In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, wie sehr der Putinismus, der aus den Bedingungen der postsowjetischen Transformation Russlands hervorgegangen ist, diesen globalen Tendenzen entspricht. Er wird nicht von einer besonders nationalen Dynamik angetrieben. In Bezug auf die Rhetorik ist es schwierig, etwas zu finden, das sich von dem unterscheidet, was jeder:m Wähler:in von Le Pen, Anhänger:in von Viktor Orban oder Fan der Tucker Carlson Show auf Fox TV vertraut ist: Es ist derselbe aggressive Anti-Universalismus, die Angstmacherei vor „Minderheiten“, die Verteidigung der „traditionellen Familie“ und „spiritueller Werte“ gegen Liberalismus und Kulturmarxismus sowie die Ausnutzung des Hasses auf abstrakte „Eliten“.

Der einzige grundlegende Unterschied des Putinismus scheint darin zu bestehen, dass er den Staat bereits in ein faschistisches Regime des einundzwanzigsten Jahrhunderts verwandelt hat. In diesem Sinne dient er nicht als Erinnerung an die Vergangenheit, sondern als Warnung für die Zukunft. Aber warum genau hat das postsowjetische Russland dieses Schicksal erlitten und ist zu diesem erschreckenden Beispiel geworden?

Putinismus: die kürzeste Geschichte der „Faschisierung“

Mitte der 2000er Jahre, als Wladimir Putin gerade triumphal zu seiner zweiten Amtszeit als Präsident wiedergewählt worden war, war der Autor dieses Artikels bereits ein aktiver Teilnehmer der linken politischen Szene in Moskau. Einer der beliebtesten Slogans auf den zahlreichen Demonstrationen, die damals von den Behörden im Zentrum der russischen Hauptstadt noch geduldet wurden, lautete „Einiges Russland ist ein faschistisches Land!“[3] Die jungen Sozialist:innen und Anarchist:innen, die diese Parole wiederholten, hielten diese Charakterisierung für eine notwendige Übertreibung. In den ersten Jahren von Putins Herrschaft gab es noch bürgerliche Freiheiten, unabhängige Medien, Oppositionskandidaten bei Wahlen und Gewerkschaften mit Streikrecht.

Dennoch war bereits eine gefährliche Kombination aus der Festigung der persönlichen Macht, der Entpolitisierung der Massen und weit verbreiteten chauvinistischen und rassistischen Ansichten zu beobachten. Putins politische Karriere und die Art seiner Popularität waren von Anfang an mit dem Krieg verbunden. Ende 1999, als Boris Jelzin Putin zu seinem Nachfolger erklärte, befanden sich die russischen Truppen bereits in einer groß angelegten „Anti-Terror-Operation“ in Tschetschenien.

Mit Putins erdrückendem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im März 2000 trat zum ersten Mal das in Erscheinung, was einige kremlnahe politische Analyst:innen als „Putin-Mehrheit“ bezeichneten. Die gemeinsamen Gefühle dieser Mehrheit der Wählenden waren Frustration, Müdigkeit und Angst: Frustration über die Demokratie, die mit politischer und sozialer Unbeständigkeit einherging; Müdigkeit über Armut und wirtschaftliche Unsicherheit; und von den Medien geschürte Angst vor der terroristischen Bedrohung durch „islamische Radikale“, gemischt mit Feindseligkeit gegenüber den „Anderen“ aus dem Kaukasus, die „unsere Städte bevölkern“.

Es ist bemerkenswert, dass diese „Versammlung-um-die-Fahne“-Mentalität, die eine Entwicklung des Putinismus kennzeichnete, keineswegs gegen den Westen gerichtet war. Im Gegenteil, Putin stellte die Militäroperation in Tschetschenien konsequent als Teil des Kreuzzugs gegen den „internationalen Terrorismus“ dar, den George W. Bush nach dem 11. September 2001 begann. Putins Innenpolitik ähnelte in ihren Grundzügen verblüffend dem neokonservativen Projekt des Westens: aggressive Privatisierung des öffentlichen Sektors und neoliberale Reform der Gesetzgebung in Verbindung mit der Stärkung der polizeilichen Kontrolle und patriotischer Rhetorik der „nationalen Einheit“ gegen äußere Herausforderungen. In den ersten Jahren von Putins Herrschaft wurden beispielsweise ein neues Arbeitsgesetz, das die Rechte der Lohnabhängigen erheblich einschränkte, ein neues Wohnungsbaugesetz, das die Privatisierung des städtischen Raums ermöglichte, und eine Pauschalsteuer von 13 Prozent, die Russland in ein Paradies für Großunternehmen verwandelte, verabschiedet.

Gleichzeitig ermöglichten es die explodierenden Ölpreise, die Löhne und Renten zu erhöhen und gleichzeitig einen ausgeglichenen Haushalt aufrechtzuerhalten. In dieser Zeit wurde der Grundstein für die paradoxe Kombination aus Neoliberalismus und Staatskapitalismus gelegt, die für das gesamte Putin-Projekt charakteristisch ist (Matveev 2016). Das Regime stellte nach und nach profitable Unternehmen, die in natürliche Ressourcen investiert hatten, unter direkte oder indirekte staatliche Kontrolle, während es den öffentlichen Sektor (vor allem das Bildungs- und Gesundheitswesen) einer endlosen neoliberalen Austeritätspolitik unterwarf.

Unter Putin haben die so genannten „Oligarch:innen“, das heißt die Eigentümer großer Unternehmen, die sie im Zuge der Privatisierung der staatlichen Industrie nach dem Ende der Sowjetära billig aufkauften, den direkten politischen Einfluss verloren, den sie unter Jelzin hatten. AberDikat sie haben enorme Möglichkeiten gewonnen, durch die laufende Privatisierung weitere Unternehmen zu kaufen und sich lukrative Verträge mit dem Staat zu sichern. Das Regime, das sich auf seine „Schein-Putin-Mehrheit“ stützte, verlieh diesen Oligarch:innen eine Legitimität, die sie in den 1990er Jahren verloren hatten.

Während der Jelzin-Regierung herrschte unter den Russen die Meinung vor, dass die Privatisierung der sowjetischen Unternehmen ungerecht und kriminell war. Inmitten des wirtschaftlichen Aufschwungs des Landes unter Putin konnte sein Regime diese Ausplünderung als ein „abgeschlossenes Kapitel“ präsentieren und davor warnen, dass jeder Versuch, darauf zurückzukommen, unweigerlich zu sozialem Chaos und dem Zerfall des Landes führen würde.

Bis Anfang der 2010er Jahre beruhte der Putinismus auf einer Entpolitisierung der Massen, die mit einem erhöhten Konsum, dem Genuss von „Stabilität“ und der Konzentration auf das Privatleben einherging. In dieser Zeit präsentierte er sich weniger als konservativ denn als „postpolitisch“ (im Verständnis von Jacques Rancière 1995), als reines Management, dessen wirksame Arbeit im Gegensatz zu den Einmischungen politischer Leidenschaften und den Parolen von Straßendemagogen steht. In dieser Atmosphäre wurde 2008, nach dem Ende der ersten beiden Amtszeiten Putins, der gesichtslose Dmitri Medwedew auf Vorschlag Putins von der gleichen „Putin-Mehrheit“ zum Präsidenten gewählt. Welchen Unterschied macht es, wie der Präsident heißt, wenn der Führungsstil derselbe bleibt?

Globale Finanzkrise, Widerstand und die faschistische Wende

Alles änderte sich Ende 2011, als Putin seine Rückkehr ins Präsidentenamt ankündigte. Das markierte die Wende des Regimes hin zu einer ausdrücklich personalisierten Macht. Ende 2011 und Anfang 2012 wurden Moskau und andere Großstädte des Landes von vielen Tausend Demonstrant:innen aufgewühlt, die gegen die offensichtliche Fälschung der Parlamentswahlen zugunsten von Putins Partei Einiges Russland demonstrierten. Sie prangerten das Regime als autoritär an. Diese Proteste stellten das „post-politische“, technokratische Modell des Regimes in Frage (Budraitskis 2014).

Als Reaktion darauf begann Putin mit dem Prozess der „Faschisierung“. Sein Wahlkampf Anfang 2012 unterschied sich deutlich von früheren Wahlkämpfen. Die Demonstrationen der Opposition wurden als Machenschaften äußerer und innerer Feinde dargestellt, die die Einheit des Landes untergraben und ihm falsche Werte aufzwingen wollten. Putin präsentierte sich als Verteidiger der „traditionellen Familie“, während Homophobie und Patriarchat in den Rang einer Staatsideologie erhoben wurden. „Putins Mehrheit“ wurde als „schweigende konservative Mehrheit“ rekonstruiert, die durch einen gemeinsamen christlichen Glauben und die Loyalität zur russischen Nation verbunden ist.

Trotz seiner Wiederwahl und der Niederschlagung der Proteste verlor Putin weiterhin an Massenunterstützung. Die demokratischen Forderungen der liberalen Opposition nach gleicher Beteiligung an Wahlen und grundlegenden bürgerlichen Freiheiten hatten das Potenzial, mit der Erfahrung wachsender Armut und sozialer Ungleichheit zu verschmelzen. Anfang der 2010er Jahre war das russische Wirtschaftswachstum, das bereits durch die globale Krise von 2008 untergraben wurde, einer Stagnation und einem stetigen Rückgang des Lebensstandards gewichen.

Unter diesen Umständen betrachtete Putin den Euromaidan-Aufstand in Kyiv im Jahr 2014 als Bedrohung. Seiner Ansicht nach stellte der Machtwechsel in der Ukraine durch Straßenproteste einen gefährlichen Präzedenzfall dar, zumal er aufgrund der Nähe und der gemeinsamen Geschichte der beiden Länder eine enorme Aufmerksamkeit der russischen Gesellschaft auf sich zog. Putin reagierte auf all dies aggressiv, um die russische Vorherrschaft im nahen Ausland zu sichern und die Ordnung im eigenen Land durchzusetzen. So wurden die externen und internen Ziele untrennbar miteinander verbunden.

Die Annexion der Krim und die militärische Intervention in der Ostukraine waren ein Wendepunkt in der Transformation des Regimes. Die erschütterte Legitimität des Putinismus wurde durch den Krieg und den schrittweisen Übergang zu einer Politik der „belagerten Festung“ wiederhergestellt. Der Platz der „schweigenden konservativen Mehrheit“ im ideologischen Konstrukt des Putinismus wurde durch den so genannten „Krim-Konsens“ abgelöst – eine allgemeine passive Zustimmung zu den geopolitischen Abenteuern des Regimes. Alle, die mit dem Imperialismus des Regimes nicht einverstanden waren, wurden als „Landesverräter:innen“ abgestempelt (Putin 2014b). An die Stelle der Innenpolitik trat die Außenpolitik, bei der das einzige handelnde Subjekt der nationale Führer und Oberbefehlshaber sein konnte, während die staatsbürgerliche Pflicht aller anderen auf dessen passive Unterstützung reduziert wurde.

Der „Krim-Konsens“ war jedoch nicht von langer Dauer. Bereits 2017 kam es in Russland zu einer neuen Politisierungswelle, die sich in verschiedenen Formen manifestierte: Straßenproteste gegen Korruption, initiiert durch den liberalen Populisten Alexej Nawalny; Massenunzufriedenheit mit der neoliberalen Rentenreform; dynamische Bewegungen für Umweltrechte; und Kämpfe zur Verteidigung der lokalen Selbstverwaltung in den Regionen des Landes. In all ihrer Vielfalt warfen diese Proteste die Frage der sozialen Ungleichheit in viel stärkerem Maße auf als 2011. Repression und geopolitische Rhetorik reichten dem Regime nicht mehr aus, um die volle Kontrolle über die Gesellschaft zu erlangen – es brauchte einen echten Krieg.

Es zeigt sich, dass der Putinismus, indem er sich auf eine phantomhafte, entpolitisierte Mehrheit stützt (deren ideologisches Konstrukt ständig von oben neu definiert wird), mit einer zunehmenden Tendenz zum Faschismus reagiert hat, um seine eigene Strukturkrise zu lösen und Herausforderungen von unten und aus dem Ausland zu unterdrücken. Je ernster die Herausforderung war, desto größer war das Potenzial, die Widersprüche zwischen der kapitalistischen Elite und der verarmten Arbeiter:innenklasse offenzulegen. Um seine Herrschaft aufrechtzuerhalten, wurde das Regime zu immer radikaleren und faschistischen Maßnahmen getrieben.

In Moskau herrscht Ordnung

Hatte die frühe „technokratische“ Form des Putinismus eine passive Wahlbasis in der Staatsbürokratie, im Kleinunternehmertum und in Teilen der atomisierten Arbeiter:innenklasse usw., so rühmt sich seine endgültige Form einer nackten Herrschaft des Staates über brutale Klassenungleichheit. In der gegenwärtigen Situation unterstützt die Mittelschicht weitgehend die chauvinistische anti-ukrainische Rhetorik, aber sie schickt ihre Kinder nicht in die Armee, um in der Ukraine zu kämpfen. Der größte Teil der russischen Streitkräfte in der Ukraine rekrutiert sich aus den ärmsten Arbeiter:innen und Arbeitslosen der Provinz, für die die Einberufung fast die einzige Möglichkeit ist, einen gut bezahlten Job zu bekommen.

Zu Beginn des Frühjahrs 2022 brauchte das Regime nur wenige Wochen, um nach dem Einmarsch in die Ukraine eine neue politische Ordnung zu schaffen, und es tat dies mit äußerster Grausamkeit. Schlecht organisierte Antikriegsdemonstrationen wurden mit beispielloser Brutalität niedergeschlagen. Mehr als 16 000 Menschen wurden verhaftet und für ihre Teilnahme im Frühjahr bestraft. Außerdem wurde eine militärische Zensur eingeführt, deren Verstöße mit Gefängnisstrafen von bis zu 15 Jahren geahndet wurden. Jede öffentliche Ablehnung der Invasion in der Ukraine wurde zu einem Verbrechen; und zwar nicht nur öffentliche Proteste, sondern jede Äußerung in den sozialen Medien oder jeder Kommentar im Gespräch mit Kolleg:innen. Die Repression ist zwar immer noch selektiv, wird aber immer intensiver und hat bereits eine einschüchternde Wirkung auf die gesamte Gesellschaft.

Die massenhafte Unterstützung für den Krieg, die sich in hauptsächlich von Kreml-kontrollierten Unternehmen durchgeführten öffentlichen Meinungsumfragen manifestiert, hat einen performativen und obligatorischen Charakter. Die Menschen sehen ihre Antworten auf Fragen zum Krieg vor allem als eine Möglichkeit, ihre Loyalität gegenüber den Behörden zu demonstrieren und die Sicherheit ihres Privatlebens zu wahren. Es ist schwer zu sagen, wie stabil diese Situation für das Regime ist. Das Absinken des Lebensstandards infolge der Sanktionen und der enormen Militärausgaben sowie das enorme Ausmaß der bisher von den Behörden vertuschten militärischen Verluste werden in Zukunft zweifellos dazu beitragen, die Unzufriedenheit zu schüren. Deshalb wird der Krieg in der einen oder anderen Form die Existenzform dieses Regimes sein und wahrscheinlich auch die Ursache für seinen Zusammenbruch.

Dennoch kann schon jetzt mit Sicherheit gesagt werden, dass Putins Regime in den letzten zwanzig Jahren eine allmähliche Entwicklung vom entpolitisierten neoliberalen Autoritarismus zu einer brutalen Diktatur durchgemacht hat. Es handelt sich um eine groteske Entwicklung aus der „Normalität“ der kapitalistischen Gesellschaft heraus, die einer Wirtschaftskrise, massiver sozialer Ungleichheit und einer durch Repression im Inland und imperialen Krieg im Ausland aufrechterhaltenen Ordnung ausgesetzt ist. Es ist die „Normalität“ und Vertrautheit des Putin-Regimes: die Passivität und Atomisierung der Gesellschaft, der reaktionäre Anti-Universalismus seiner Rhetorik, multipliziert mit der äußerst zynischen Rationalität seiner Eliten. Es ist angemessen, diese Regime ausdrücklich als faschistisch zu bezeichnen, nicht nur, weil es dieser Definition entspricht, sondern auch, damit die emanzipatorischen Bewegungen der Gegenwart das Ausmaß der globalen Bedrohung unserer gemeinsamen Zukunft verstehen können.