Die Grenzen des westlichen Wirtschaftskriegs mit Russland und das Scheitern der Klimapolitik

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine markiert einen historischen Wendepunkt. Die illegale Annexion von vier ukrainischen Regionen im September und die atomaren Drohungen sind eine gefährliche Verschärfung. Meines Erachtens ist es ein Grundprinzip, dass die Arbeiter:innenbewegung und die Zivilgesellschaft international den ukrainischen Widerstand unterstützen sollten, und darüber habe ich an anderer Stelle geschrieben.[1] In diesem Artikel unternehme ich einen ersten Versuch, den Wirtschaftskrieg, der gleichzeitig zum militärischen Konflikt geführt wird, sowie die daraus resultierende Disruption der Energiemärkte zu analysieren und diese in die umfassenderen sozialen und ökologischen Krisen, die das Kapital erschüttern, einzuordnen

Im ersten Abschnitt argumentiere ich, dass der Wirtschaftskrieg der westlichen Mächte gegen Russland reaktiv und begrenzt ist; noch immer hoffen Teile des westlichen Kapitals, die ruinierten Geschäftsbeziehungen mit Russland zu reparieren. Im zweiten Abschnitt zeige ich, dass die westliche Politik bis 2014 darauf ausgerichtet war, Russland zu den Bedingungen des Westens in die Weltwirtschaft zu integrieren: Selbst nach der Militärintervention des Kremls in der Ukraine blieb die westliche Antwort reaktiv. Im dritten Abschnitt geht es um die Folgen der aktuellen Invasion für die Energiemärkte – insbesondere den europäischen Gasmarkt – und für die Energiewende. Das Narrativ der “Energiekrise” wird benutzt, um die Investitionen in fossile Brennstoffe zu verdoppeln und die Verpflichtungen der westlichen Mächte zur Verringerung der Treibhausgasemissionen zu untergraben, wodurch die Auswirkungen des Krieges und der Klimakrise für die gesamte Menschheit noch verstärkt werden.

1. Wirtschaftskrieg und seine Grenzen

Die Sanktionen der westlichen Mächte gegen Russland zielen darauf ab, die Regierung Putin zu disziplinieren, und nicht, sie zu zerstören. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar und die illegale Annexion von vier ukrainischen Regionen im September markieren den Zusammenbruch der 1990-92 zwischen Russland und den europäischen Mächten, insbesondere Deutschland, aufgebauten Beziehungen – ein Zusammenbruch, den diese Mächte verzweifelt zu vermeiden gehofft hatten. Dieser Zusammenbruch wird nicht nur die militärischen Ausrichtung des Kapitals in Europa verändern, sondern auch das Energiesystem, in dem billiges russisches Gas seit vier Jahrzehnten ein Schlüsselelement ist.

Drei Arten von Wirtschaftssanktionen werden gegen Russland verhängt: Finanzsanktionen, Handelssanktionen und Sanktionen gegen einzelne Unternehmenseigentümer:innen, die Verbindungen zum Kreml haben. Zu den Finanzsanktionen gehören das Einfrieren von auf Dollar lautenden Guthaben der Zentralbank und Einschränkungen bei der Nutzung von Zahlungssystemen; die Gazprombank, über die Zahlungen für Gasexporte abgewickelt werden, ist davon ausgenommen. Die Handelssanktionen richten sich gegen Ausfuhren, vor allem von Öl und Gas, und Einfuhren, insbesondere von High-Tech Produkten. Die Sanktionen gegen einzelne Geschäftsleute (Einfrieren von Vermögenswerten, Verweigerung von Visa usw.) haben zwar die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen, sind aber auch am wenigsten wirksam, wie eine Umfrage von The Economist ergab. Darin wird geschätzt, dass von den 400 Milliarden Dollar, die auf dem Papier blockiert sind, nur 50 Milliarden Dollar eingefroren wurden.[2] Transparency International stimmte dem zu: “Während die Beschlagnahmung von Yachten für internationale Schlagzeilen sorgt, ist dies nur ein kleiner Teil des illegalen Reichtums, den Kleptokrat:innen im Ausland verstecken.” Das System, das “seit Jahrzehnten missbraucht worden” ist, ermöglicht ihnen damit, ihr Vermögen dem Zugriff der Steuerbehörden zu entziehen.[3]

Im Folgenden fasse ich die Auswirkungen der Sanktionen auf Öl und Gas, einige Gründe für die Straffreiheit der russischen Kleptokrat:innen und die Folgen für die russische Wirtschaft zusammen.

Öl

Russland ist hinter den USA und Saudi-Arabien der drittgrößte Erdölproduzent. Es hat einen Anteil von 12-13 % an der weltweiten Rohölproduktion und raffiniert mehr als die Hälfte davon in Russland. Etwa drei Viertel der Produktion werden exportiert, das meiste (etwa zwei Drittel) als Rohöl, einiges als raffinierte Produkte. Der Ölexport ist die Hauptstütze der russischen Wirtschaft und trägt zu etwa 45 % der gesamten Exporteinnahmen und etwa einem Drittel des Staatshaushalts bei.

Bisher waren die westlichen Sanktionen gegen russisches Öl noch begrenzt: Die schwerwiegendste Einschränkung, ein EU-Embargo für Rohölimporte, wird erst im Januar 2023 in Kraft treten, gefolgt von einem Embargo für Raffinerieprodukte im Februar.[4] Maßnahmen wie Sanktionen gegen die russische Schifffahrt und Versicherungsbranche sowie Finanzsanktionen haben eine gewisse Wirkung gezeigt und zu einem Rückgang der russischen Ölexporte nach Europa und in die USA geführt. Aber ein großer Teil dieses Öls wurde von anderen Ländern gekauft, vor allem von Indien und China, wenn auch mit einem Preisnachlass. Vor Februar lag die russische Produktion bei knapp 12 Millionen Barrel pro Tag (mbpd) und die Rohölexporte bei etwa 5 mbpd. In den ersten sechs Monaten nach dem Einmarsch in die Ukraine gingen die Ausfuhren in die USA und nach Europa um 0,76 mbpd zurück, jedoch gehen zusätzliche 0,5 mbpd an asiatische Abnehmer:innen. Im März prognostizierte die Internationale Energieagentur, dass die russische Ölproduktion bis zum nächsten Jahr um 3 mbpd, d. h. um mehr als ein Viertel, zurückgehen würde; im September korrigierte sie diese Prognose auf einen Rückgang um 1,9 mbpd.[5]

Russland exportiert zwar weniger Öl, verdient aber aufgrund der hohen Preise weitaus mehr daran. Die Ölpreise stiegen im Jahr 2021, als die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie einsetzte, stetig an. Im Februar, unmittelbar nach der russischen Invasion der Ukraine, stiegen sie auf über 120 $/Barrel und gingen bis September wieder auf etwa 90 $/Barrel zurück. Russlands Exporteinnahmen aus fossilen Brennstoffen (einschließlich Öl, Gas und Kohle) sind sprunghaft angestiegen: In den ersten sechs Monaten seit der Invasion beliefen sie sich auf 158 Mrd. $, davon 43 Mrd. $ für die Staatskasse. Mehr als die Hälfte dieser Einnahmen stammte aus der EU.[6]

Die G7-Staaten erwägen eine Preisobergrenze für den Kauf von russischem Öl einzuführen, zum Beispiel indem sie Versicherungsleistungen für Schiffe, die über eine bestimmte Preisgrenze hinaus liefern, verbieten. Es bestehen jedoch Zweifel an der Wirksamkeit.[7] Seit der Verhängung von Sanktionen gegen iranisches Öl haben die Händler weltweit immer ausgefeiltere Methoden entwickelt, um diese zu umgehen. Die westlichen Länder sind auch durch einen Mangel an Raffineriekapazitäten eingeschränkt: Wenn die Maßnahmen der EU greifen, könnte mehr russisches Öl zur Verarbeitung und Wiederausfuhr nach China und Indien fließen.

Die Sanktionen gegen den Ölhandel haben Russland also kurzfristig nicht daran gehindert, mehr Exporteinnahmen zu erzielen, werden aber mittelfristig wahrscheinlich zu einem Rückgang der russischen Ölproduktion führen. Die größten Auswirkungen werden jedoch langfristig zu spüren sein, da die Zusammenarbeit mit multinationalen Ölgesellschaften und die Einfuhr westlicher Technologie versiegen.

Im März erklärten die drei größten multinationalen Ölinvestoren in Russland – BP, Shell und ExxonMobil -, dass sie sich zusammen mit anderen ausländischen Unternehmen zurückziehen würden. TotalEnergies aus Frankreich hingegen blieb. Im August verbot ein Präsidialdekret ausländischen Investor:innen den Verkauf von Vermögenswerten. Die großen Ölkonzerne verhandeln nun mit der Regierung sowie mit saudischen, chinesischen und indischen Investor:innen, wie sie ihre Anlagen verkaufen können. Russland ist bei den komplexen Upstream-Aktivitäten, die einen immer größeren Anteil an seiner Ölproduktion ausmachen, in hohem Maße auf importierte Technologie und Fachwissen angewiesen, so dass dieser Rückzug schädlich sein könnte. Im Juli zog ExxonMobil ausländische Mitarbeiter:innen von dem Projekt Sachalin I ab, das das Unternehmen gemeinsam mit Rosneft, dem größten staatlichen russischen Ölkonzern, betreibt. Die Produktion ging in Folge um mehr als 95 % zurück.[8]

Gas

Russland ist der zweitgrößte Gasproduzent der Welt; in der Vergangenheit war es der größte, fiel aber 2011 hinter die USA zurück, nachdem dort die Schiefergasproduktion zugenommen hat. Das meiste russische Gas – in den letzten Jahren knapp zwei Drittel – wird in Russland verbraucht. In den letzten Jahren hat Russland damit begonnen, relativ kleine Gasmengen über eine neue Pipeline nach China und als Flüssigerdgas (LNG) aus Projekten im Fernen Osten und in der Arktis zu exportieren, aber die Grundlage seines Exportgeschäfts waren immer Lieferungen über Pipelines nach Europa. Gazprom, das riesige staatlich kontrollierte Gasunternehmen, hat darauf ein Monopol.

Russisches Gas hat in den letzten Jahren mehr als ein Drittel des gesamten EU-Gasverbrauchs ausgemacht. Einige Länder sind jedoch stärker davon abhängig als andere: Deutschland bezieht mehr als die Hälfte seines Gases aus Russland; die Tschechische Republik, Ungarn und die Slowakei sind sogar noch stärker abhängig. Infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine haben nicht nur die europäischen Regierungen versucht, die Abhängigkeit von russischen Gasimporten zu verringern[9], sondern auch Gazprom – auf Anweisung des Kremls und im Widerspruch zu seinen kommerziellen Interessen – versucht, die Exporte zu reduzieren.

Während der Kreml hofft, die Ölexporte so hoch wie möglich zu halten, betrachtet er das Zurückhalten von Gaslieferungen nach Europa als Instrument der wirtschaftlichen Kriegsführung. Bereits 2021, als der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze die politischen Spannungen mit Europa verschärfte, stellte Gazprom die Befüllung von Gasspeichern in Europa ein und lieferte zwar weiterhin Gas im Rahmen langfristiger Verträge, stellte aber den Verkauf zusätzlicher Mengen auf den europäischen Spotmärkten ein. Diese Angebotsverknappung führte zusammen mit der steigenden Nachfrage nach der Pandemie zu einem starken Anstieg der Großhandelspreise für Gas.

Im Februar, nachdem der Kreml die “Republiken” Donezk und Luhansk anerkannt hatte, blockierte Deutschland die Fertigstellung der Nord Stream 2-Pipeline, eines fast fertigen Gazprom-Projekts, mit dem Gas über eine nicht-ukrainische Route nach Deutschland geleitet werden sollte. Nach Ausbruch des militärischen Krieges, entbrannte ein Wirtschaftskrieg. Die deutsche Politik starke Handelsbeziehungen, zunächst mit der Sowjetunion und dann mit Russland, aufzubauen, war zu Ende.[10] (Zu den Auswirkungen der Verknappung der Gaslieferungen auf die europäischen Energiesysteme siehe Teil 3).

Als Reaktion darauf und auf die Finanzsanktionen drosselte Russland die Gaslieferungen noch stärker. Im März erließ Putin ein Dekret, wonach die Zahlungen in Rubel erfolgen mussten; die Gaslieferungen nach Polen, Bulgarien, Finnland, in die Niederlande und nach Dänemark wurden gekürzt oder eingestellt, als Unternehmen sich weigerten. Im Laufe des Sommers wurden durch Sanktionen und Gegensanktionen die Gaslieferungen über drei der vier wichtigsten Pipelinerouten – über das Baltikum, Polen und die Ukraine – unterbrochen, während die Lieferungen über die Türkei fortgesetzt wurden. Gazprom kam seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht nach – ein weiterer Nagel im Sarg der über ein halbes Jahrhundert aufgebauten Geschäftsbeziehungen.[11]

Die europäischen Gaspreise sind in die Höhe geschossen, viel stärker und schneller als die Ölpreise. Gazprom wird, wie die Ölgesellschaften, beträchtliche Exporteinnahmen erzielt haben. Doch die Krise, die das Unternehmen erschüttert, ist ein Beispiel für die Auswirkungen des Wirtschaftskriegs. In den 1990er Jahren trug Gazprom Russland durch die weltweit tiefste Rezession in Friedenszeiten, indem es Unternehmen und Haushalte mit billigem Gas versorgte, während die Ölgesellschaften zu einem Spottpreis privatisiert wurden und die Einnahmen Offshore platziert wurden. Heute ist Gazprom ein Opfer der Entscheidung des Kremls geworden, das wirtschaftliche Handeln seinem militärischen Treiben unterzuordnen. Der groß angelegte Raubzug bei Gazprom durch Putin und seine engen Vertrauten wurde von Korruptionsbekämpfer:innen dokumentiert[12]; ein leitender Angestellter mit ukrainischem Familienhintergrund ist nach Kiew geflohen und hat den Krieg verurteilt[13], während mehrere andere unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sind[14]; und im September wurden beide Leitungen der Nord-Stream-Pipeline – Gazproms wichtigstes Vorzeige-Infrastrukturprojekt – von unbekannten Täter:innen sabotiert[15].

Die gesamten Gasexporte Russlands nach Europa, die in den letzten Jahren zwischen 150 und 170 Milliarden Kubikmeter pro Jahr lagen, werden in diesem Jahr, 2022, wahrscheinlich auf 90 Milliarden Kubikmeter und im nächsten Jahr, 2023, auf null sinken. Der Kreml hat von einer Umleitung der Ströme nach China gesprochen, aber das Potenzial ist vergleichsweise bescheiden (derzeit 48 Mrd. m3/Jahr Verträge, die bestenfalls verdoppelt werden könnten) und die geografischen Bedingungen sind sehr ungünstig.[16] Russland hat möglicherweise zwei seiner größten Gasexportmärkte, Deutschland und die Ukraine, dauerhaft verloren.

Die Straffreiheit der Kleptokrat:innen

Die relative Straffreiheit, mit der Russlands Kleptokrat:innen das Sanktionsregime überleben, ist größtenteils auf das Wachstum von Offshore-Steuerparadiesen als Ergebnis der neoliberalen Offensive zurückzuführen. Im Folgenden argumentiere ich, dass die Kleptokratie (definiert als systematischer Diebstahl öffentlicher Mittel durch die Elite), die sich in den letzten drei Jahrzehnten in den ehemaligen Sowjetstaaten herausgebildet hat, keine Anomalie der neoliberalen Phase des Kapitalismus ist, sondern fester Bestandteil derselben ist.[17]

Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die mächtigsten kapitalistischen Nationen einen internationalen Rechtsrahmen für ihre weitere Expansion schufen, gehörten dazu Devisenkontrollen und Kapitalverkehrskontrollen, die die Finanzinstitutionen der einzelnen Länder dem jeweiligen Staat unterordneten und die internationalen Beziehungen durch den US-Dollar als Reservewährung regelten. Doch ab den 1970er Jahren wurde das Finanzsystem zunehmend globalisiert, Finanzinstitute operierten verstärkt über Staatsgrenzen hinweg, und es entstanden Offshore-Zonen, über die die Eliten die von den einzelnen Staaten erhobenen Steuern umgehen konnten.

Das sowjetische System hatte seine Industrien autark entwickelt, hinter dem Schutzwall einer nicht konvertierbaren Währung. Als diese Mauer 1990-92 fiel und Teile der sowjetischen Elite begannen, sich staatliches Vermögen anzueignen und sich selbst in kapitalistische Eigentümer:innen zu verwandeln, waren die Offshore-Zonen hoch entwickelt und in der Lage, Dutzende von Milliarden Dollar an Fluchtkapital aus Russland, der Ukraine und anderen ehemaligen Sowjetstaaten aufzunehmen. Die Form des Kapitalismus, die sich in den 1990er Jahren in Russland etabliert hat – mit einem weltweit beispiellosen Maß an Ungleichheit und einer besonders ungeheuerlichen Konzentration von Reichtum in den Händen einer kleinen Elitegruppe, die mit ihrem Einfluss auf den Staat oft die Regulierung außer Kraft setzt – besteht auch heute noch, obwohl sich Macht und Reichtum von einigen der ursprünglichen Kleptokrat:innen der Jelzin-Ära auf eine neue Generation, die eng mit den Sicherheitsdiensten verbunden ist, verlagert haben.[18]

Die Kapitalflucht ist kein Zufall, sondern ein zentrales Element des Kapitalismus in den ehemaligen Sowjetländern. Der Journalist Oliver Bullough zitiert in Moneyland den französischen Wirtschaftswissenschaftler Gabriel Zucman, der schätzt, dass 2014 8 % des weltweiten Finanzvermögens in Steuerparadiesen lag. Während jedoch nur 4 % des US-Finanzvermögens offshore angelegt waren, lag der Durchschnitt für afrikanische Länder bei 30 %, für Russland bei 52 % und für die Golfstaaten bei 57 %. Das Wesen der Offshore-Zonen macht es schwierig, dieses Vermögen zu messen. 2010 schätzte James Henry, ein anderer Wirtschaftswissenschaftler, die Spanne auf 21-32 Billionen Dollar, also sogar etwa viermal so viel wie Zucmans Gesamtwert von 7,6 Billionen Dollar. [19]

Es ist die wesentliche Rolle einiger reicher Länder, insbesondere Großbritanniens, die Finanzinstrumente bereitzustellen, die die Ausplünderung des ehemaligen Sowjetblocks und des globalen Südens erleichtern. In einer anderen journalistischen Recherche kam Tom Burgis zu dem Schluss, dass sich Großbritannien auf dem “langen Weg von der imperialen Macht” zu einem “globalen Netzwerk der finanziellen Geheimhaltung befindet, das mit der City of London verbunden ist und neue, private Imperien bedient”; die bankrotte politische Klasse des Vereinigten Königreichs “nimmt Geld und Inspiration von „Ur-Kleptopia“, dem postsowjetischen Moskau”.[20] Russland wurde, sowohl als Exporteurin von Rohstoffen, als auch als Lieferantin von Finanzvermögen in die Offshore-Zonen, in die Weltwirtschaft integriert. Das Putin-Regime ist kein Gegenspieler des neoliberalen Kapitals und seiner staatlichen Organe, sondern dessen außer Kontrolle geratenes Frankenstein’sches Monster.

Auswirkungen auf die russische Wirtschaft und Schlussfolgerungen

Oleg Ustenko, der oberste Wirtschaftsberater des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, bezeichnete im August die westlichen Sanktionen als “Phantom”, das weniger als 5 % der russischen Rohölexporte aus der Vorkriegszeit betreffe; die steigenden Preise hätten “weit mehr” mit der Profitgier der Energieunternehmen zu tun als mit den Sanktionen. Er wies darauf hin, dass im Juli einige Maßnahmen gelockert wurden: Die EU-Sanktionen wurden so abgeändert, dass Käufer:innen “unbedingt notwendige” Zahlungen an russische Ölfirmen tätigen dürfen, und ein Plan, den russischen Zugang zu Schiffsversicherungen zu blockieren, wurde verschoben.[21]

Das ist der politische Charakter der Sanktionen: Die westlichen Mächte sind bereit, die russische Wirtschaft und das Wohlergehen der russischen Bevölkerung zu schädigen, werden aber durch die Notwendigkeit gebremst, ihre eigenen Macht- und Vermögensstrukturen zu schützen und ihr Verhältnis zur eigenen Bevölkerung zu regeln. Während die Sanktionen beim Blockieren von Exporteinnahmen so unwirksam waren, wie Ustenko behauptete, fordern sie auf andere Weise ihren Tribut von der russischen Wirtschaft.

Die Sanktionen auf Öl-, Gas- und andere Exporte haben dazu beigetragen, die Preise in die Höhe zu treiben und die Einnahmen des Kremls zu erhöhen, doch haben die Sanktionen auf Importe der russischen Industrie bereits erheblichen Schaden zugefügt. Während viele russische Wirtschafts- und Handelsdaten seit Februar geheim gehalten werden, zeigen die noch verfügbaren Produktionsstatistiken katastrophale Rückgänge in Branchen, die auf importierte Technologie und Komponenten angewiesen sind: Die Autoproduktion sank im Juni im Vergleich zum Vorjahr um 62 %. Die Produktion anderer Konsumgüter, darunter Kühlschränke und Waschmaschinen, ist in der ersten Hälfte dieses Jahres um mehr als ein Drittel zurückgegangen.[22] Beobachter:innen sind sich einig, dass das Fehlen von Hightech-Importen sowohl der Öl- und Gasproduktion (siehe oben) als auch anderen Schlüsselindustrien langfristig den größten Schaden zufügen wird.

Wirtschaftswissenschaftler:innen erwarten, dass das russische BIP in diesem Jahr um 5-6 % schrumpfen wird, sind sich aber uneins über die längerfristigen Aussichten, die Auswirkungen der positiven russischen Handelsbilanz und die Maßnahmen der Zentralbank zur Stärkung des Rubels. Die Diskussion selbst ist stark politisiert. Eine der umfassendsten Untersuchungen zu den Sanktionen, die von Forscher:innen der Universität Yale durchgeführt wurde, kommt zu der offensichtlich übertriebenen Schlussfolgerung, dass “es für Russland keinen Weg aus der wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit gibt, solange die verbündeten Länder geschlossen an den Sanktionen festhalten und sie weiter verschärfen”. Andere Analyst:innen weisen darauf hin, dass sich die russische Wirtschaft von den katastrophalen Einbrüchen der Jahre 1992-94 und 2010-11 erholt hat; “Bedeutungslosigkeit” ist relativ.[23] Was jedoch beinah unvermeidlich scheint, ist, dass die ärmsten russischen Haushalte eine weitere erhebliche Verschlechterung ihres Lebensstandards erleiden werden – während zugleich für Männer aus den ärmsten Haushalten Russlands und ethnischen Minderheiten eine weitaus größere Gefahr besteht, in die demoralisierte russische Armee eingezogen zu werden.

2. Die Ursachen des Krieges

Der beschränkte Wirtschaftskrieg der westlichen Mächte gegen Russland ist eine Folge, keine Ursache. Deren Russlandpolitik zielte darauf ab, Russland wirtschaftlich zu integrieren und es politisch zu einer Juniorpartnerin – und nicht zu einer Feindin – zu machen. Der imperiale Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar und der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen diesen Angriff zwangen sie zur Kursänderung. Um zu verstehen, was bevorsteht und wie dies mit dem historischen Versagen der westlichen Mächte im Umgang mit dem Klimawandel zusammenhängt, ist es sinnvoll, die Geschichte dieser Beziehungen zu beleuchten.

Hier wird ein marxistischer Ansatz vorgeschlagen, der sowohl die staatlichen und politischen Kräfte als auch die ihnen zugrundeliegenden ökonomischen Beziehungen berücksichtigt. Diejenigen in der westlichen “Linken”, die behaupten, dass die “NATO-Erweiterung” die Hauptursache für den militärischen Konflikt ist (bis hin zur Androhung des Einsatzes von Atomwaffen durch Russland) und dass die Ukraine einen “Stellvertreter:innenkrieg” für die USA führt, liegen nicht nur falsch sondern sind auch politisch verwerflich. Sie agieren faktisch als Apologet:innen für das mörderische Vorgehen des Kremls. Sie ignorieren die Verpflichtung für alle, die eine marxistische Analyse entwickeln wollen, konkret aufzudecken, wie staatliche und politische Kräfte in ökonomischen Beziehungen verankert sind. So konzentriert sich ein Leitartikel über den Krieg in Monthly Review, einer führenden englischsprachigen marxistischen Zeitschrift, auf “die zentrale Rolle, die die USA und die NATO […] von Anfang an gespielt haben”; leugnet, dass Russland 2014 (!) in die Ukraine einmarschiert ist; und sagt, zusammen mit einem zugehörigen 6800 Wörter langen Artikel des Herausgebers der Zeitschrift, kein einziges Wort über die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und dem internationalen Kapital.[24] Kein einziges.

Im Folgenden biete ich eine andere Erklärung an, die wirtschaftliche und politische Faktoren berücksichtigt. Anschließend veranschauliche ich sie am konkreten Beispiel der Auseinandersetzungen um den Gashandel.

Vor und nach 2014[25]

In den Jahren 1989-91 brach das sowjetische System zusammen, und damit auch das Zweimächte-System der internationalen Ordnung, das seit 1945 bestanden hatte. Das autarke, staatlich kontrollierte Modell der Sowjetunion hatte ausgedient; Arbeiter:innenunruhen und soziale Bewegungen trugen dazu bei, es zu überwinden. Die langjährige militärische Gegnerin der Westmächte befand sich im Chaos, doch schon damals breitete sich die neoliberale Hegemonie nicht nur, oder gar überwiegend, durch die NATO im postsowjetischen Raum aus. Die verheerendsten Umwälzungen waren wirtschaftlicher Natur. Russland, die Ukraine und andere ehemalige Sowjetrepubliken wurden in die größte Rezession gestürzt, die es in Friedenszeiten je gegeben hat; große Teile der Industrie wurden zerschlagen; die Sozialsysteme brachen zusammen; die arbeitende Bevölkerung litt unter Arbeitslosigkeit und Armut. Das westliche Kapital hat sich nicht unbedingt Eigentum angeeignet, oder dies versucht. Russlands Öl-, Gas-, Mineralien- und Metallindustrie wurde größtenteils in die Hände einheimischer Unternehmensgruppen übertragen, die von gewieften ehemaligen Bürokrat:innen gegründet wurden. Gleiches gilt für die ukrainische Stahl-, Kohle- und Chemieindustrie. Das Bestreben des Westens bestand darin, Staatseigentum zu zerschlagen und jedes Hindernis für das Funktionieren der Märkte zu beseitigen.

Die wichtigste Runde der NATO-Erweiterung gehört in diese erste postsowjetische Periode. Im Jahr 1999 traten Ungarn, Polen und die Tschechische Republik bei, und mit Bulgarien, Rumänien, der Slowakei, Slowenien, Litauen, Lettland und Estland wurden Beitrittspläne vereinbart. Sie alle traten im Jahr 2004 bei. Seitdem sind vier kleine Balkanstaaten der NATO beigetreten (Albanien und Kroatien im Jahr 2009, Montenegro im Jahr 2017 und Nordmazedonien im Jahr 2020). Was die Ukraine betrifft, so haben die NATO-Staaten sie zwar lange Zeit mit relativ geringen Mengen an Verteidigungswaffen beliefert, doch wurde kein Beitrittsplan in die Wege geleitet worden. Einige “Linke”, die nur auf Washington schauen, stellen die USA als einzige treibende Kraft dieses Prozesses dar; in der Realität waren die osteuropäischen Staaten selbst treibende Akteur:innen, ausgehend von ihrer Erfahrung, in der Vergangenheit wiederholt von Russland und nicht von den USA überfallen worden zu sein.

Putins Amtsantritt im Jahr 2000 markierte einen Wendepunkt. Der russische Staat wurde aus dem Chaos der 1990er Jahre herausgeholt. Die Konzerne wurden diszipliniert und gezwungen, Steuern zu zahlen. Vermögensbestände von Oligarch:innen der Jelzin-Ära wurden unter die Kontrolle der ehemaligen Sicherheitsbeamt:innen (siloviki) gestellt; das Vermögen des größten privaten Ölkonzerns Yukos wurde beschlagnahmt und an die staatlich kontrollierte Rosneft übergeben. Als die Ölpreise stiegen und 2009 ihren Höchststand erreichten, erlebte der russische Kapitalismus einen Boom wie nie zuvor oder danach. Es wurden maßgebliche Schritte unternommen, um das russische Kapital mit den westlichen Märkten zu verschmelzen, einschließlich der Ausweitung des Finanzsektors und des Verkaufs von Minderheitsbeteiligungen an rohstoffexportierenden Unternehmen an ausländische Eigentümer:innen.

Mit Russlands zweitem Tschetschenien-Krieg (1999-2002) erhob Putin – mit enthusiastischer Unterstützung der NATO – seinen Anspruch auf die Rolle eines Gendarmen für das Kapital in Russlands Einflussbereich. Über sein erstes militärisches Unterfangen außerhalb der russischen Grenzen, den Einmarsch in Georgien 2008, waren die NATO-Mächte weniger erfreut, drückten aber ein Auge zu. Die Aufmerksamkeit der Regierenden richtete sich auf etwas Anderes: Wenige Wochen später kam es in den USA zum Finanzcrash.

Der wirtschaftliche Abschwung nach 2008 bildete den Hintergrund für den Maidan-Aufstand, der 2014 den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch stürzte. Die in den 2000er Jahren erzielten Verbesserungen des ukrainischen Lebensstandards waren zunichtegemacht worden. Es war kein einzelner Auslöse, der die Menschen auf die Straße trieb, aber der Unmut über die Korruption von Janukowitsch und der von ihm vertretenen ostukrainischen Bourgeoisie (Eigentümer:innen von Bergwerken, Stahlwerken und Produktionsanlagen) war ein Faktor. Ein weiterer Grund war das Drängen anderer Teile der ukrainischen Führungselite auf engere Beziehungen zu Europa und politische Distanz zu Russland. Die Beschreibung dieser Ereignisse – an denen Millionen von Menschen teilnahmen und während derer die Polizei kollabierte – durch Monthly Review und andere als “Putsch” ist ebenso irrational wie politisch tendenziös.

Die Entscheidung des Kremls, 2014 in der Ukraine militärisch zu intervenieren und die Krim zu annektieren, wurde in erster Linie durch die Befürchtung ausgelöst, dass sich die chaotische Bewegung, die Janukowitsch hinwegfegte, in Russland wiederholen könnte. Putin war bereits bei den Wahlen 2011/12 mit der ersten großen Protestbewegung seiner Präsidentschaft gegen Wahlfälschungen konfrontiert. Auch der Unmut über die Annäherung der ukrainischen Führungselite an Europa war ein Faktor. Die Grenzen der NATO wurden ausgetestet.

Auch nach 2014 änderten die westlichen Mächte ihren Ansatz nur, gaben ihn aber nicht auf. Während die USA und ihre Verbündeten entschlossen waren, den militärischen Ambitionen Russlands Grenzen zu setzen, blieb es Ordnungshüterin im ehemaligen sowjetischen Raum. Die westlichen Mächte verhängten Sanktionen, die die jahrelangen Bemühungen russischer Unternehmen um eine engere Einbindung in das Weltfinanzsystem zunichtemachten; die Hoffnungen russischer Wirtschaftsexpert:innen auf eine Abkehr von der Abhängigkeit von Kohlenwasserstoffen wurden enttäuscht. Die Funktion Russlands als Lieferant von Öl, Gas und Metallen für den Weltmarkt und von Fluchtkapital in die Offshore-Zonen blieb jedoch weitgehend unangetastet.

Das Narrativ der “NATO-Erweiterung” passt nicht zu den grundlegenden Fakten. Während Putins nächstem militärischen Unterfangen in Syrien 2015/16 wurden die von der US-Regierung festgelegten “roten Linien” von Russland und seinem syrischen Verbündeten eindeutig überschritten. Die ausbleibende Reaktion der NATO war beschämend. Russland verbrachte weitere Jahre in der wirtschaftlichen Depression; Putins Hoffnungen, dass sich der neue ukrainische Präsident Selenskyj bei den Verhandlungen über den Donbass als gefügiger erweisen würde als sein Vorgänger, erfüllten sich nicht; erst dann ging Putin zu einer extremeren Form des nahezu faschistischen Militarismus über und ordnete die Invasion vom 24. Februar an.

Erst dann und nur nachdem Putins Hoffnungen auf eine schnelle Einnahme Kiews durch den ukrainischen Widerstand zunichtegemacht worden waren, gaben die westlichen Mächte ihre bisherige Politik der strikten Begrenzung der Waffenlieferungen an die Ukraine auf. So argumentiert der ukrainische Schriftsteller und Filmemacher Oleksiy Radynski: “Ein informelles Abkommen zwischen zwei imperialistischen Mächten [Russland und Deutschland] wurde durch einen Faktor ins Wanken gebracht, der außerhalb der Reichweite dieser imperialen Pläne lag: Der Widerstand des ukrainischen Volkes.”[26]

Der Gashandel

Der Gashandel, der lange Zeit im Mittelpunkt der wirtschaftlichen Beziehungen Russlands zur Ukraine und zu Europa stand, fällt nun dem Wirtschaftskrieg zum Opfer. Im Folgenden werfe ich einen Blick auf die Geschichte des Gashandels, um die Ursachen des Konflikts – sowohl militärisch als auch wirtschaftlich – zu beleuchten. (Dies war einer meiner Hauptforschungsbereiche während meiner 15-jährigen Tätigkeit am Oxford Institute for Energy Studies.[27])

Zu Beginn der postsowjetischen Periode war die Ukraine (i) der Transitweg für Gas aus den riesigen sibirischen Feldern Russlands zu den europäischen Abnehmer:innen und (ii) eine Großverbraucherin von Gas und der zweitgrößte Exportmarkt von Gazprom nach Deutschland. Ab 1992 wurden die Zahlungen der Ukraine für das verbrauchte Gas und die Zahlungen Russlands für den Gastransit durch die Ukraine nach Europa, die zuvor durch inner-sowjetische Überweisungen beglichen wurden, über Nacht in Dollar fällig. Der russisch-ukrainische “Gaskrieg”, in dessen Mittelpunkt unbezahlte Rechnungen für verbrauchtes Gas standen, begann. In den 2000er Jahren, als sich beide Volkswirtschaften erholten, stieg sowohl der Wert der Gasverkäufe an die Ukraine für Gazprom, als auch der Transitgebühren für die Ukraine erheblich. Zunächst versuchte Russland, sowohl den Transit als auch den ukrainischen Markt zu kontrollieren – in den 2010er Jahren hatte es jedoch beide Ziele aufgegeben.

Erstens: Was sagt uns diese Geschichte über die politische und wirtschaftliche Strategie Russlands gegenüber der Ukraine? In den 2000er Jahren, als das politische Pendel in der Ukraine zwischen pro-europäischen und pro-russischen Politiker:innen hin und her schwang, konzentrierte sich Gazprom darauf, sich die Kontrolle über das ukrainische Transitsystem zu sichern. Letztlich blockierte das ukrainische Parlament jedoch alle Vorschläge für eine solche Miteigentümer:innenschaft. Gazprom reagierte, indem es den Preis und die Vertragsbedingungen für russische Gasexporte in die Ukraine hart aushandelte. Dies führte im Januar 2009 zum bisher schwersten “Gaskrieg”, bei dem nicht nur die Lieferungen in die Ukraine, sondern auch an die europäischen Kund:innen von Gazprom unterbrochen wurden.

Nach diesem Konflikt änderte sich der russische Kurs. Versuche, russisch kontrollierte Unternehmen in den ukrainischen Binnenmarkt und in den Gastransit einzubinden, wurden aufgegeben. Statt um kommerzielle Zugeständnisse, bemühte sich Russland nun um politische Zugeständnisse. Im Jahr 2010 tauschte Russland billigeres Gas gegen eine Verlängerung der Verpachtung des ukrainischen Marinestützpunkts auf der Krim an Russland. Im Jahr 2013 bot der Kreml im Rahmen eines großzügigen Handelspakets einen beträchtlichen Preisnachlass auf Gasverkäufe an, sofern die Ukraine ihre Gespräche über ein Assoziierungsabkommen mit der EU aufgibt; Janukowitschs Unterstützung dieses Pakets war einer der Auslöser für den Aufstand auf dem Maidan. Als Reaktion auf Russlands militärische Aktivitäten in der Ostukraine stellte die staatliche Gasgesellschaft Naftogaz Ukrainy 2016 den direkten Bezug von russischem Gas vollständig ein.

In den 2000er Jahren hatte sich Russland Hoffnungen gemacht, von seiner mächtigen Position im ukrainischen Gassektor zu profitieren; in den 2010er Jahren opferte es diese Hoffnungen im Streben nach territorialem Gewinn.

Wie steht es um die russische Strategie gegenüber europäischen Regierungen und Unternehmen? Nach dem Streit im Januar 2009 hat Gazprom dem Bau von Pipelines Priorität eingeräumt, um damit Gas über nicht-ukrainische Routen nach Europa zu bringen. Das Unternehmen wollte sich um jeden Preis von der Abhängigkeit vom Transit durch die Ukraine befreien: Die Entscheidung, Nord Stream 1 direkt von der Ostsee nach Deutschland zu verlegen, wurde 2010 getroffen, ungeachtet des Einsetzens der schlimmsten Rezession seit den 1930er Jahren. Die meisten der mächtigen europäischen Energieunternehmen, die russisches Gas kaufen, sahen die Hauptschuld für den Lieferstopp im Januar 2009 bei der Ukraine und stimmten diesem Projekt zu oder beteiligten sich daran.

Während der gesamten 2010er Jahre kam es zwischen Russland und Europa zu Spannungen im Gassektor. Dabei ging es jedoch nicht um die Ukraine, sondern um die Marktregeln der EU, die die traditionellen ölgebundenen langfristigen Verträge, die Gazprom und deren Großkund:innen bevorzugten, unterliefen. Mit anderen Worten: Es ging um die Bedingungen, zu denen Russland als Rohstoffexporteurin die Weltmärkte beliefern würde – eine Beziehung, die beide Seiten fortsetzen wollten.

Wie sieht es schließlich mit den Strategien westlicher Regierungen und Unternehmen gegenüber Russland aus?

Wären die westlichen Drohungen ausschlaggebend für einen militärischen Konflikt, würden das die großen Ölgesellschaften gewiss zumindest berücksichtigen. Doch sowohl vor als auch nach 2014 investierten sie Milliarden in russische Upstream-Projekte. Die Ukraine, die als Land mit weniger günstigen Marktzugangsbedingungen galt, wurde praktisch ignoriert. Der bisher größte Deal zwischen westlichen und russischen Ölgesellschaften, der Tausch der Anteile von BP an TNK-BP gegen 20 % von Rosneft, wurde 2013 abgeschlossen. Rosneft und sein politisch mächtiger Vorsitzender Igor Setschin wurden 2014 nach der Annexion der Krim durch Russland von den USA mit Sanktionen belegt; die Zusammenarbeit von BP mit Rosneft wurde hingegen fortgesetzt und vertieft.

Die US-Sanktionen von 2014 gefährdeten das Nord Stream 2-Projekt, mit dem die Diversifizierung des Gastransits weg von der Ukraine abgeschlossen werden sollte. Deutschland wollte jedoch, dass die Pipeline fertiggestellt wird. Nach langwierigen Verhandlungen schlossen Deutschland und die USA im Juli 2021 – als der russische Truppenaufmarsch an den ukrainischen Grenzen in vollem Gange war – eine Vereinbarung, wonach die Sanktionen gegen die Pipeline im Gegenzug für deutsche Investitionszusagen in der Ukraine aufgehoben wurden.[28] Dieses Vorgehen der beiden NATO-Mächte beruhte auf der Annahme, dass die Bestrebungen von den russischen Ressourcen zu profitieren – durch Geschäftsbeziehungen mit russischen Unternehmen und nicht durch offensive militärische Maßnahmen – fortgesetzt würden. Diese Haltung änderte sich erst am 22. Februar, nachdem der Kreml die beiden separatistischen “Republiken” im Donbas anerkannt hatte und die deutsche Regierung die Fertigstellung der Pipeline blockierte.

Nachdem die Pipeline im September 2022 durch Sabotageakte beschädigt wurde, scheint es fraglich, ob sie jemals wieder in Betrieb genommen wird. Einige von Putins Apologet:innen in der westlichen “Linken” beeilten sich, die USA für den Schaden verantwortlich zu machen, obwohl es dafür keinerlei Beweise gibt. Sicher ist jedoch, dass ihre Behauptung, die Sabotage beeinträchtig die kommerziellen Interessen von Gazprom, haltlos ist. Das gesamte europäische Vertriebsgeschäft von Gazprom, das über ein halbes Jahrhundert hinweg mühsam aufgebaut wurde, war bereits im Sommer ruiniert worden – durch den Kreml, als er die Reduzierung der Gaslieferungen anordnete, um die militärische und politische Unterstützung Europas für die Ukraine zu schwächen.

3. Die Dekonstruktion der “Energiekrise”

Der Krieg und der Zusammenbruch der westlich-russischen Wirtschaftsbeziehungen haben das Angebot an fossilen Brennstoffen, einigen Nahrungsmitteln und anderen Rohstoffen verknappt. Die Preise, insbesondere auf dem Gasgroßhandelsmarkt, sind in die Höhe geschossen. Dies hat nicht nur zu einem gigantischen Profitrauscht geführt, sondern auch die Pläne des Kapitals für den wirtschaftlichen Aufschwung nach Corona zunichtegemacht. Die europäische Energiepolitik, in der billiges russisches Gas eine zentrale Rolle spielt, ist gescheitert. Das Kapital reagiert in seiner eigenen Logik: Es baut die fossilen technologischen Systeme, auf die es sich stützt, noch weiter aus und verschiebt weltweit die Grenzen der Ausbeutung immer weiter. Die politischen Entscheidungsträger:innen der USA und Europas haben ihre eigenen klimapolitischen Ziele zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen – wieder einmal – untergraben, um neue Investitionen in die Produktion fossiler Brennstoffe zu fördern. Die Krise, in der sich das Kapital befindet, ist real genug – aber die Narrative von “Energiekrise” und “Energiesicherheit” müssen hinterfragt werden. Die Gewerkschaftsbewegung und die sozialen Bewegungen müssen Wege finden, sich auf eine politische Strategie zu einigen, die gleichzeitig dem aktuellen Angriff auf den Lebensstandard entgegentritt, als auch den Übergang weg von den fossilen Brennstoffen beschleunigt.

Ein vorgeschlagener Interpretationsrahmen

Um sozialistische Antworten auf diese Krise zu erarbeiten, ist es zunächst wichtig, Kategorien wie “Energiesicherheit” zu hinterfragen. Der russische Einmarsch in der Ukraine wird von der Europäischen Kommission, der britischen Regierung und anderen staatlichen Stellen als Bedrohung für die “Energiesicherheit” dargestellt, d. h. für die “ununterbrochene Verfügbarkeit von Energiequellen zu einem erschwinglichen Preis”, wie es in der Internationalen Energieagentur heißt.[29] Aber für wen müssen diese Energiequellen verfügbar sein? Und wie wird “erschwinglich” bestimmt?

Der Markt bewertet einen Kubikmeter Gas, der verbrannt wird, um die Wohnung einer Rentnerin zu heizen, genauso wie einen anderen Kubikmeter, der verschwendet wird, indem er Wärme in die Luft über der Wohnung dieser Rentnerin abgibt, weil sie nicht richtig isoliert ist. Und ganz gleich einen dritten Kubikmeter, der in einer petrochemischen Anlage zur Herstellung von Plastikverpackungen verwendet wird, um die Kosten für den Transport von Luxusgütern zu einer reichen Verbraucherin zu senken. Die Politik der “Energiesicherheit” begünstigt häufig diejenigen Kubikmeter, die verschwendet oder für Luxusgüter verbraucht werden, weil die Bauunternehmen, die schlecht isolierte Häuser bauen, sowie die Unternehmen der Petrochemie, der Verkehrs- und der Luxusgüterindustrie über eine starke Lobby verfügen. Zugleich hat die Rentnerin nur insofern eine Stimme, als die Zivilgesellschaft sie verstärken kann. “Energiesicherheit” geht von der Annahme aus, dass die Energienachfrage unflexibel ist, und lässt den Berg wirtschaftlicher Beziehungen unangetastet, der über Jahrzehnte hinweg unter der Annahme errichtet wurde, dass fossile Brennstoffe immer reichlich und billig vorhanden sein werden.

“Energiesicherheit” setzt einen Pakt zwischen Kapital und Staat voraus, in dem sich der Staat unterordnet. Zu Beginn und in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als sich die vom Kapital beherrschten sozialen Beziehungen konsolidierten und weltweit ausweiteten, herrschte ein Spannungsverhältnis zwischen der Kontrolle des Kapitals über Brennstoffe und Elektrizität und den Bestrebungen des Staates in vielen Ländern, diese – zumindest für die Industrie, wenn nicht sogar für die Bevölkerung – als staatlich getragene oder zumindest streng regulierte Dienstleistungen bereitzustellen. Ab den 1980er Jahren wurde die Stellung des Staates geschwächt: Die Warenlogik setzte sich an den internationalen Märkten für Brennstoffe durch; neoliberale Regierungen versuchten, wenn auch mit nur mäßigem Erfolg, die Elektrizität zu kommodifizieren. In den 1990er Jahren, just als die Klimawissenschaft auf die Notwendigkeit von verstärkter staatlicher Lenkung hinwies, waren es die Imperative des Neoliberalismus, die nach weniger staatlicher Regulierung verlangten.[30] Diesem Dogma zufolge sollte die “Energiesicherheit” durch Märkte und Unternehmen gewährleistet werden.

Die gleiche Krise des Kapitals, die in Russland die Putin-Regierung hervorbrachte, führte schließlich auch in Europa zu einem “Energiesystem”, das von fossilen Brennstoffproduzent:innen auf der einen Seite und industriellen Verbraucher:innen von Gas und Strom auf der anderen Seite beherrscht wird. Heute dient “Energiesicherheit” in erster Linie der Verteidigung von deren Interessen. Dagegen müssen die Arbeiter:innenbewegung und die Zivilgesellschaft einen Ansatz entwickeln, der die arbeitenden Menschen gegen die Angriffe auf ihren Lebensstandard verteidigt, den Grundsatz von Brennstoffen und Strom als Teil der öffentlichen Versorgung anstelle von Waren vorantreibt und gleichzeitig die Transformation weg von fossilen Brennstoffen eröffnet.

Die Antwort des europäischen Kapitals

Die europäischen Großhandelspreise für Gas begannen im Jahr 2021 zu steigen (siehe oben). Dieses Jahr, 2022, wurden sie durch die Verknappung des russischen Gases und die Erwartung, dass es im nächsten Jahr überhaupt kein russisches Gas mehr (an den europäischen Märkten) geben wird, auf das 8-10fache des Niveaus von 2020 getrieben. Der Lieferrückgang von russischem Öl – und anderen russischen und ukrainischen Rohstoffen, darunter Weizen, Pflanzenöl und gewisse Metalle – hat auch in anderen Bereichen die Preise in die Höhe getrieben. Viele Ökonom:innen gehen davon aus, dass Länder, die im Nachgang der Pandemie die Rezession überwunden haben, wieder in diese zurückfallen werden.

Die Auswirkungen des Krieges auf die Gasmärkte sind am extremsten. Erstens, weil es dazu nach 30 Jahren Liberalisierung, die tendenziell die Volatilität der Märkte erhöht, kommt. Zweitens, weil die europäische und insbesondere die deutsche Industrie und die städtische Infrastruktur in hohem Maße von diesen Importen abhängig sind, und drittens, weil der Kreml die Lieferungen absichtlich reduziert.

Die europäischen Regierungen sind sich uneins, wie sie mit den Preissteigerungen umgehen sollen. Einige erheben Übergewinnsteuern auf fossile Brennstoffe und erwägen pauschale oder selektive Preisobergrenzen. Die meisten haben Subventionen für Endverbraucher:innen eingeführt – in vielen Fällen, weil die Eliten befürchten, dass diese nicht in der Lage oder nicht willens sein werden, die hohen Preise zu bezahlen. Die Europäische Kommission hat eine obligatorische Reduzierung des Gas- und Stromverbrauchs um 15 % im Winter vorgeschlagen. Aus Sicht der Gewerkschaftsbewegung und der Zivilgesellschaft kommt es darauf an, dass die Endverbrauchspreise vom Staat reguliert werden können, wenn nötig in Kombination mit der Verstaatlichung von Unternehmen, und zwar auf jeder Ebene: Die “Energiekrise” ist kein unkontrollierbares, vom Kreml geschaffenes Monster, dessen Folgen von den Arbeiter:innen getragen werden müssen.

Die europäische Industrie ist mit einer Kombination aus hohen Preisen und möglichen physischen Engpässen beim Gas konfrontiert. Deutschland hat Uniper, den größten deutschen Gasimporteur, verstaatlicht; andere Gas- und Stromlieferant:innen haben um staatliche Unterstützung angesucht, ebenso wie Hersteller:innen von Stahl, Aluminium, Düngemitteln und petrochemischen Erzeugnissen. Die Regierungen hoffen, Gas durch Kohle und Kernkraft bei der Stromerzeugung ersetzen zu können, und in Deutschland, den Niederlanden, Griechenland und der Tschechischen Republik wurden bestehende Pläne zur schrittweisen Stilllegung von Kohlekraftwerken wieder verworfen.

Neben diesen kurzfristigen Maßnahmen – und unter dem Einfluss der Lobbyarbeit der Hersteller:innen fossiler Brennstoffe – haben die europäischen Regierungen massiv in neue Infrastrukturen investiert, um Gas und andere fossile Brennstoffe aus nicht-russischen Quellen zu importieren. Eine Untersuchung der Financial Times hat ergeben, dass die europäischen Regierungen, obwohl sie sich zur Abkehr von fossilen Brennstoffen bekennen, seit Februar Pläne für fossile Projekte im Wert von mehr als 50 Milliarden Euro verabschiedet haben. Das ist viermal mehr als die 12 Milliarden Euro, die in der RePowerEU-Strategie, die den Zeitraum bis 2027 abdeckt, für fossile Brennstoffe vorgesehen sind. Seit Februar hat die EU 27 Milliarden Euro an staatlichen Beihilfen für energieintensive Industrien und Unternehmen des Energiesektors genehmigt, mehr als die EU-Klimafinanzierung für Länder des globalen Südens im gesamten Jahr 2020.[31]

Ein Großteil dieser Investitionen ist darauf ausgerichtet, Europas Kapazitäten für den Import von verflüssigtem Erdgas (LNG) zu erhöhen, d. h. Gas, das ohne Pipelines eingeführt werden kann. Energieforscher:innen halten dies für eine unüberlegte Überreaktion, die den exzessiven Verbrauch fossiler Brennstoffe verfestigt; Investitionen in Energieeinsparungen wären effektiver. Seit Mai haben europäische Politiker:innen Abkommen mit den USA und Katar, zwei der größten LNG-Exportländer, verkündet. Auch in Afrika haben europäische Länder eine diplomatische Offensive betrieben: Reuters-Recherchen haben ergeben, dass Öl- und Gasproduzent:innen dort Investitionen in Höhe von bis zu 100 Milliarden Dollar in Erwägung ziehen, hauptsächlich in die Offshore-Gasförderung. Dies würde die afrikanischen Länder auf die Produktion fossiler Brennstoffe für den Export festlegen, anstatt ihre eigenen Energiesysteme für die Zeit nach den fossilen Brennstoffen zu entwickeln.[32]

Der Erfolg der Lobbyarbeit der fossilen Unternehmen zeigt sich auch in der anhaltenden Unterstützung der europäischen Politiker:innn für Wasserstoff als Energieträger. Aufgrund der Schwierigkeit, Wasserstoff ohne hohe Kohlenstoffemissionen aus Erdgas zu gewinnen, und der enormen Energiekosten für seine Erzeugung aus erneuerbaren Energieträgern kann er in den post-fossilen Energiesystemen nur eine geringe Rolle spielen. Dennoch haben die Gasunternehmen, die darin ein Potenzial für die Umstellung ihrer Infrastruktur auf Wasserstoff sehen, beträchtliche politische Unterstützung für diese letztlich illusorische technische Lösung gewonnen.[33]

Schlussfolgerungen und Strategien für die Arbeiter:innenbewegung und die sozialen Bewegungen

Diese beiden scheinbar getrennten Krisen – Krieg und das Versagen beim Klimaschutz – haben ihre Wurzeln in der größeren Krise des Kapitals. Es muss uns wert sein, darüber zu diskutieren, wie ihre Wurzeln miteinander verwoben sind, wenn wir unseren Hoffnungen auf einen sozialen Wandel, der über das Kapital hinausgeht, einen Sinn geben wollen. Ich möchte mit den 1980er Jahren beginnen, als die weltweiten Rezessionen einer neuen Welle von Kapitalexpansion Platz machten, die oft als Globalisierung bezeichnet wird. Auf dem Gipfeltreffen von Rio im Jahr 1992 anerkannten die stärksten Mächte der Welt die Erkenntnisse der Klimawissenschaft, wonach die Nutzung fossiler Brennstoffe die Hauptursache für die potenziell gefährliche globale Erwärmung sei und daher reduziert werden müsse – und dennoch setzten sie in den 1990er und 2000er Jahren eine beispiellose Steigerung der Nutzung fossiler Brennstoffe durch, um die Ausweitung jeglicher Art von industrieller Produktion anzukurbeln. Nur die Rezession von 2009-10 (sowie 2020-21 – Anm.Red.) hat diese Expansion vorübergehend gebremst.

Gleichzeitig entwickelte sich Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu einem Exportland von Rohstoffen, Öl und Gas. Als Putin im Jahr 2000 die Nachfolge Jelzins antrat, begrüßten die westlichen Mächte die Wiederherstellung eines starken Staates anstelle des Chaos der 1990er Jahre. Es folgte der russische Ölboom von 2003-09. Weltweit stieg die Ölnachfrage, und das steigende russische Angebot war willkommen; inmitten dieser neuen Runde wirtschaftlicher Expansion wurde die Klimapolitik zur Nebensache. Die westlichen Mächte sahen erst zustimmend, später besorgt zu, wie der Kreml die Rolle des Gendarmen des Kapitals in seiner Einflusssphäre übernahm; es folgten die Interventionen in der Ukraine 2014 und in Syrien 2015-16; Putin war auf dem Weg zu der verheerenden Invasion in diesem Jahr.

Dass die westlichen Mächte diesen Kurs des Kremls zuließen oder ermöglichten, wird von einigen Analyst:innen als Scheitern des nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion angepassten Systems gesetzlich geregelter internationaler Beziehungen angesehen. Ich vertrete die alternative Ansicht, dass dieses System immer dem Kapital verpflichtet war, dessen Dynamik die Entwicklung des Putin-Regimes begünstigt hat. Die Frage ist nicht, ob dieses System gescheitert ist, sondern ob es jemals hätte erfolgreich sein können. Die 1992 in Rio beschlossene Zielsetzung, die Treibhausgasemissionen zu reduzieren, war gewissermaßen die Dringlichste, die sich das internationale politische System gestellt hatte. Doch dieses Ziel wurde durch die neuen Schübe der Kapitalakkumulation in den 1990er und 2000er Jahren gewaltsam beiseitegeschoben. Für das immer weiter expandierende Kapital war Russland eine Quelle neuer fossiler Brennstoffe, um diese Riesenmaschinerie anzutreiben.

Dies war die Grundlage, auf der die Handelsbeziehungen und politischen Kompromisse beruhten. Diese bildeten später die Grundlage für die russische Aggression gegen die Ukraine. Der Kapitalismus und sein politischer Apparat, die die menschliche und ökologische Katastrophe der globalen Erwärmung verursacht haben, haben gleichzeitig das Entstehen von Putins militaristischer Diktatur befördert. Putin ist kein Gegenpol zu diesem System, sondern seine Schöpfung.

In Anbetracht dieser Schlussfolgerungen stelle ich einige Grundsätze zur Diskussion, auf die sich die Aktionen der Arbeiter:innenbewegung und der Zivilgesellschaft stützen könnten.

Erstens: Die Zivilgesellschaft verändert die Verhältnisse. Der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung war ein entscheidender Faktor für die Niederschlagung des russischen Vormarsches auf Kiew im März und die ukrainische Rückeroberung von Gebieten im Osten und Süden im September und Oktober. Auch die Haltung der russischen Bevölkerung spielt eine Rolle: Niemand will dort in die Armee eintreten. In der Arbeiter:innenbewegung und der Zivilgesellschaft im übrigen Europa müssen wir uns mit dem ukrainischen Widerstand solidarisieren, die Kriegsflüchtlinge aufnehmen usw. und uns gleichzeitig den Folgen der “Energiekrise” und der Inflation stellen.

Zweitens sollten wir nach Wegen suchen, um die unmittelbaren Probleme, mit denen die arbeitenden Menschen in den europäischen Ländern konfrontiert sind – unbezahlbare Gas- und Stromrechnungen auf der einen Seite, mögliche Entlassungen auf der anderen Seite – mit einer längerfristigen Politik zu verknüpfen, die auf den Ausstieg aus fossilen Energien und die Entwicklung von Energieversorgungssystemen abzielt, die den Menschen und nicht dem Kapital dienen. Die Arbeiter:innenbewegung hat sich in ihrer gesamten Geschichte dafür eingesetzt, dass die Versorgung mit Brennstoffen und Strom sowie mit anderen kommunalen Dienstleistungen als gemeinschaftliche Infrastruktur, als Rechte und nicht als Waren betrachtet wird. Die Argumente für Formen des öffentlichen und gemeinnützigen Eigentums sind überzeugend. Wir müssen diese Themen in den Mittelpunkt der Kämpfe der 2020er Jahre stellen.

Drittens müssen wir Wege finden, um die Verbindung zu konkretisieren, die zwischen den unmittelbaren Lebenshaltungskosten und dem längerfristigen Problem des Klimawandels besteht. Ein naheliegendes Beispiel ist die Forderung nach einer massiven Nachrüstung von Häusern mit Isolierung und elektrischen Wärmepumpen. Millionen europäischer Haushalte sind in einem System gefangen, das wirtschaftlich von Konzernen und technisch von fossilen Brennstoffen bestimmt wird: Sie zahlen exorbitante Rechnungen für Gas und Strom, zu deren Nutzung sie durch diese Systeme gezwungen werden.

Energiesystemforscher:innen haben gezeigt, dass der Gasverbrauch durch Einsparungsmaßnahmen innerhalb weniger Jahre um fast ein Drittel des Gesamtverbrauchs in der EU gesenkt werden könnte. Parallel dazu hat sich eine Allianz von Umweltschützer:innen dafür ausgesprochen, den EU-Verbrauch um 100 Mrd. m³/Jahr – zwei Drittel der in den letzten Jahren aus Russland importierten Mengen – durch Energieeffizienzmaßnahmen, Wärmepumpen und Elektrifizierung von Gebäuden, sowie durch mehr Strom aus erneuerbaren Energiequellen zu senken.[34] Derartige Vorschläge müssen über die Grenzen von Forschungsberichten hinausgetragen und in der Zivilgesellschaft breit diskutiert werden.

Längerfristig gesehen sind Wärmedämmung und Wärmepumpen kleine technologische Schritte auf dem Weg zu einem Energiesystem, das nicht mehr auf fossilen Brennstoffen basiert; das Gleiche gilt für öffentliche Verkehrsnetze, die den Straßenverkehr minimieren sollen. Diese Technologien werden ihr Potenzial nur dann entfalten – und dazu beitragen, die bedrohliche globale Erwärmung aufzuhalten -, wenn sie mit einem sozialen Wandel einhergehen, der uns von der Herrschaft des Kapitals befreit und uns allen ein besseres, sinnerfüllteres Leben ermöglicht.

Dies sind nur Anhaltspunkte dafür, wie meiner Meinung nach die Arbeiter:innenbewegung und die Zivilgesellschaft der Krise, in der wir leben, begegnen können. Andere werden diese Gedankengänge noch viel weiter entwickeln können. Am wichtigsten ist die Richtung, die die arbeitenden Menschen einschlagen, wenn sie kollektiv handeln, um das soziale Leben im Angesicht der vielschichtigen Krise, die das überkommene System des Kapitals der Menschheit jetzt auferlegt, zu verteidigen. Zu zeigen, wie solche Aktivitäten zusammenwirken können, um den notwendigen radikalen Systemwandel – jenseits des Kapitals, hin zu einer wahrhaft menschlichen Zukunft – herbeizuführen, muss zweifellos das Ziel jeder auf die Praxis der Arbeiter:innenbewegung und der sozialen Bewegungen gerichteten Analyse sein.