Die Ukraine und die Krise der italienischen Linken

Die Invasion und Zerstörung der Ukraine durch die Armeen der Russischen Föderation dauert nun schon fast ein Jahr an.[1] Sicherlich, es ist bekannt, dass die gesamte Geschichte des Kapitalismus von Kriegen, Verwüstungen und Massakern durchzogen ist. Der «Weltfrieden», der unmittelbar nach der Niederlage des Nazifaschismus verkündet wurde, hat sich gewiss nicht in den Frieden verwandelt, der in der «Charta der Vereinten Nationen» beschworen wurde, die sich verpflichtete, «den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen» (aus Artikel 1 der UN-Charta von 1945).

Wie wir wissen, wird die Welt heute von einer Vielzahl von Krisen heimgesucht, von der Wirtschafts- bis zur Umweltkrise, von der Nahrungsmittelkrise bis zur Migrationskrise … Die Gründe für die Mobilisierung der Antikapitalist:innen werden also immer zahlreicher, während die Kräfte, die für diese Mobilisierungen eingesetzt werden können, immer knapper werden.

Eine verpasste Gelegenheit

Aber diese Feststellungen, die meines Erachtens offensichtlich sind, ändern nichts an der schockierenden Natur dieses Krieges. Stattdessen hat ein großer Teil der italienischen Linken diesen Krieg weitgehend bagatellisiert, so als ob es sinnlos wäre, ihn frontal zu bekämpfen, da er einer von vielen sei; und hat sich nicht so sehr auf das Leiden der unmittelbar betroffenen Bevölkerung konzentriert, sondern eher auf die Folgen, die der Krieg für die italienischen Arbeiter:innenklasse haben würde.

Stattdessen entschied sich die italienische Linke (wenn auch mit unterschiedlichen Nuancen, aber im Wesentlichen mit einem weitgehend übereinstimmenden Ansatz) dafür, die entscheidende Gelegenheit für eine Anti-Kriegs-Intervention und -Initiative zu ignorieren, die die ukrainische Krise bot. Sie entschied sich dafür, nicht auf die Welle der Emotionen einzugehen, die Putins verbrecherische Initiative in der öffentlichen Meinung der westeuropäischen Länder auslöste, und insbesondere in der italienischen öffentlichen Meinung, die normalerweise selbst gegenüber dem unsagbarsten menschlichen Leid stumm bleibt, wenn es außerhalb ihrer Komfortzone stattfindet.

Die italienische Linke hat es vorgezogen, sich gegen diese Welle der Gefühle zu stellen und sie als ein Nebenprodukt der Propaganda des westlichen Imperialismus zu betrachten. Und sie hat sich dafür entschieden, nach einer Möglichkeit zu suchen, sich an den «Krämerpazifismus» anzupassen, den Pazifismus derjenigen, die dem ukrainischen Widerstand feindselig gegenüberstehen, sich den Sanktionen widersetzen und stillschweigend (und manchmal sogar ausdrücklich) für den «Sieg des Stärkeren» werben, weil alles, was Widerstand und Sanktionen mit sich bringen, ihre jämmerlichen Geschäfte gefährdet.

Es ist kein Zufall, dass sich die Linke beim Werben um diese vermeintliche «pazifistische Mehrheit der Italiener:innen» in einen unvorteilhaften und unfruchtbaren direkten Wettbewerb mit Berlusconi und Salvini begeben hat.

Eine radikal andere Haltung hätte zu einem Instrument werden können, um die Menschen zum Nachdenken über ihren eigenen Egoismus anzuregen, eine Bewegung der Empörung gegenüber Putin und der Solidarität mit den Ukrainer:innen anzustoßen und gleichzeitig auf diese Leiden als Beispiel für die Leiden aller anderen Völker hinzuweisen, die unter Kriegssituationen oder Unterdrückung durch ausländische Mächte leiden.

Ein großer Teil dessen, was – wer weiß warum – immer noch als die italienische «radikale Linke» gilt, hat den russischen Invasionskrieg in der Ukraine zum Anlass genommen, über etwas anderes zu sprechen, und dabei sorgfältig jede sinnvolle Erwähnung dessen vermieden, was in der Ukraine geschah und geschieht.

Ich betrachte diese unbestreitbare Tatsache als einen der Hauptindikatoren für die endgültige Krise der ehemaligen «italienischen Linken», als Zeichen für den Verlust einer echten internationalistischen Orientierung und letztlich für eine sehr ernsthafte Beeinträchtigung ihrer Fähigkeit, die Welt zu verstehen.

«Links» sein

Die erste Eigenschaft, die eine linke Frau oder einen linken Mann von rechten Frauen und Männern unterscheiden sollte, ist die Fähigkeit, sich in den Rest der Arbeiter:innenklasse einzufühlen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrem Wohnort. «Empathie», ein Begriff, der sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts in der Kultur durchgesetzt hat, wird im Wörterbuch wie folgt definiert: «Die Fähigkeit, die Stimmung und die emotionale Situation einer anderen Person unmittelbar zu verstehen, hauptsächlich ohne Rückgriff auf verbale Kommunikation. Genauer gesagt bezeichnet der Begriff die Phänomene der intimen Teilnahme und Identifikation.» Einfach ausgedrückt: die Fähigkeit, «sich in den/die andere:n hineinzuversetzen». Ohne sich um Formulierungen zu scheren und mit der kommunikativen Kraft seiner Persönlichkeit schrieb Che Guevara in einem bekannten Brief an seine Kinder: «Seid vor allem immer fähig, jede Ungerechtigkeit gegen jeden Menschen an jedem Ort der Welt im Innersten zu fühlen. Das ist die schönste Eigenschaft eines Revolutionärs

Es muss eingeräumt werden, dass die Ungerechtigkeiten, die in diesem Kriegsjahr gegen das ukrainische Volk begangen wurden, von der italienischen Linken nicht «im Innersten gefühlt» wurden, ja sie wurden nicht einmal oberflächlich gefühlt. Es ist eine Linke, die es vorgezogen hat, das «Leiden» der russischen Oligarchie zu priorisieren und zu «fühlen», von der es mehr oder weniger zu Recht heißt, sie sei ernsthaft bedroht durch den US-Imperialismus (und seine europäischen Verbündeten). Auf diese Weise hat die Linke in gewisser Weise ihre Reaktion auf Kosten des ukrainischen Volkes rechtfertigt.

Die italienische Linke macht sich die Argumente eines der Imperialismen zu eigen

Die «Linke» hat es gewagt, bei den leider sehr wenigen Gelegenheiten der Mobilisierung zu diesem Thema aufzutreten und ihre Parolen auf die Entwaffnung des ukrainischen Widerstands und die Beendigung der Sanktionen gegen Russland zu konzentrieren. Die italienische «Linke» ist daher von der ukrainischen Bevölkerung zu Recht als Unterstützerin der russischen Aggression, ihrer Bombardierungen, ihrer Massaker, der derzeitigen kalten Erpressung (durch die systematische Bombardierung von Kraftwerken) usw. wahrgenommen worden.

Diese «Linke» zeichnet sich dadurch aus, dass sie die von der Führung der Russischen Föderation vorgebrachten Beweggründe (die sich zudem je nach militärischen und politischen Zweckmäßigkeiten ändern) billigt, akzeptiert und sich zu eigen macht:

  • die «nationalistische und antirussische Ukraine», obwohl nur zwei Jahre vor der Aggression ein Präsident (Selenskyj) mit über 73 Prozent der Stimmen (auch im Donbas) demokratisch gewählt worden war, der ein Programm zur Verständigung mit den russischen Nachbarn vorgeschlagen hatte. Es sei daran erinnert, dass an den ukrainischen Parlamentswahlen 2019, die drei Monate nach der Wahl Selenskyjs stattfanden, mehr als zwanzig Parteien teilnahmen, darunter auch einige prorussische, die zusammen etwas mehr als 16 Prozent der Stimmen erhielten und etwa fünfzig Abgeordnete (von 450) wählten;
  • die «Ukraine als Brutstätte des Nazismus», in der sich die zwar vorhandenen rechtsextremen Kräfte auf wenige Prozentpunkte reduzierten (bei den Wahlen im Juli 2019 kam die Koalition Svoboda – Freiheit, in der sich alle ultranationalistischen antirussischen Gruppen wiederfanden, auf 2,25 Prozent und wählte nur einen Abgeordneten. Was soll man über Italien sagen, wo die postfaschistische Partei die Regierung führt? Und dazu, dass die Russische Föderation ein Bezugspunkt für einen großen Teil der internationalen rechtsextremen Kräfte war und ist;
  • «die Ukraine ist undemokratisch, weil sie Oppositionsparteien verboten hat», obwohl es sich bei den verbotenen Parteien um solche handelt, die die russische Invasion offen unterstützt haben (Ilya Kiva, Vorsitzender und Abgeordneter der wichtigsten pro-russischen Oppositionspartei, erklärte nach dem Einmarsch der russischen Truppen von Spanien aus, wohin er sich bereits geflüchtet hatte – offensichtlich wissend, was sich da zusammenbraute –, dass «Russlands Handeln Frieden und Hoffnung für die Wiedergeburt des ukrainischen Volkes bringt, das vom Westen versklavt und in die Knie gezwungen wurde, vom Nazismus durchdrungen ist und keine Zukunft hat. Die Ukraine braucht Hilfe und Befreiung. Wir zählen auf Russland, denn ich weiß, dass Ukrainer:innen, Weißruss:innen und Russ:innen eine Nation, eine Familie sind. Und es wird die Zeit kommen, in der wir zusammenkommen und zusammenstehen werden»). Es ist wirklich schwierig für Parteien mit solchen Positionen, in einer Kriegssituation weiter zu agieren. Wir möchten betonen, dass eine solche Ächtung von der linken Partei Sotsialnyi Rukh ausdrücklich verurteilt wurde. Was den vergleichenden Blick auf «Demokratie» betrifft, so sei daran erinnert, dass in Russland jede:r, der/die auch nur unvorsichtig das Wort «Krieg» ausspricht, im Gefängnis landet.
  • «Die Ukraine existiert nicht als ein Volk, das sich vom russischen unterscheidet.» Darauf (Nationalbewusstsein, Ethnizität, Selbstbestimmung …) werde ich später zurückkommen.

Viele «Linke» haben die Aneinanderreihung russischer Lügen gutgeheißen, auch die zynischsten, wie die Behauptung, die Toten von Butscha seien von der ukrainischen Propaganda bezahlte Akteur:innen.

Putins «Argumente», ihre Absurdität und ihr vulgär-instrumenteller Charakter verdienen keine Entlarvung vor einer linken Öffentlichkeit, die mit dem Anspruch, «antiimperialistisch» zu sein, prinzipiell dem misstrauen sollte, was von der Regierung einer imperialistischen Macht kommt, so wie wir prinzipiell dem misstrauen, was von unseren eigenen imperialistischen Machtzentren kommt.

Ein «Antiimperialismus» von Dummköpfen

Die mangelnde Ernsthaftigkeit und Analysefähigkeit dieser Linken zeigt sich auch daran, dass sie bis in die 1980er Jahre die Sowjetunion unter Chruschtschow und Breschnew als «sozialimperialistische» Macht bezeichnete, während sie heute, nach allem, was geschehen ist, Russland als positiven Akteur zur Verteidigung des «multipolaren Charakters» des Planeten betrachtet.

In diesem Zusammenhang ist es nützlich, sich daran zu erinnern, dass das geopolitische Chaos, das den Planeten nach der Niederlage der USA in Vietnam, nach der Niederlage im Irak und schließlich nach der Niederlage in Afghanistan im August 2021 kennzeichnete, ein Chaos, das sogar den französischen Präsidenten Macron dazu veranlasste, die NATO als «hirntot» zu bezeichnen, gerade dank der Aggression Russlands gegen die Ukraine neu geordnet wird. In den letzten zehn Monaten wurde die zentrale Rolle des US-Imperialismus definitiv wiederhergestellt. Die NATO hat es geschickt geschafft, eine «Funktion» wiederherzustellen, die sie mit dem Ende des Kalten Krieges verloren hatte, und ihre Popularität wächst leider exponentiell (siehe die neuen Mitgliedschaften und die Zustimmung, die sie in großen Teilen der Welt genießt, nicht nur bei den Regierungen, sondern auch in der öffentlichen Meinung).

Aber Empathie bedeutet nicht nur, das Leiden des ukrainischen Volkes mitfühlend und solidarisch zu betrachten: Dann könnte man sich darauf beschränken, Solidaritätsinitiativen zu unterstützen (wie z.B. die Entsendung von Lebensmitteln, Decken, Stromgeneratoren usw. in die Ukraine), Initiativen, die jedenfalls in Italien von der Linken völlig ignoriert oder sogar mit Misstrauen betrachtet und (mit einigen lobenswerten Ausnahmen) religiösen und säkularen Vereinigungen überlassen wurden. Für einen oder eine Internationalist:in bedeutet Empathie eben genau das: «sich in die Lage der/des anderen zu versetzen» und sich aus der Bequemlichkeit der eigenen Komfortzone heraus zu fragen, was wir Internationalist:innen tun würden, wenn wir dort wären.

Die Linke hätte dies bereits für Syrien tun sollen, beginnend im Jahr 2011, als die ersten Proteste und Aufstände gegen das Regime von Baschar al-Assad ausbrachen. Die Alternative war: das Regime zu verteidigen, bis hin zu dem Punkt, die verbrecherischen Bombenangriffe der russischen und der Assad-Armee, die die Stadt Aleppo und so viele andere kleinere Städte dem Erdboden gleichgemacht haben, als positiv zu bezeichnen und sogar die Berichte über den Einsatz von Thermobomben oder chemischen Waffen durch das Regime und die Russen entgegen aller Beweise als Fake News zu betrachten? Oder sich dafür entscheiden, den Volksaufstand zu unterstützen, natürlich unter Wahrung der eigenen Unabhängigkeit der Analyse und Initiative?

Und wie hätten wir uns verhalten, wenn wir am 24. Februar in der Ukraine gewesen wären? Wir sind ein wenig zu sehr von der Aussage Carl von Clausewitz’ in seinem Werk «Vom Kriege» angetan, dass «der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln» ist. Diese Aussage verbirgt (vor allem vor dem/der unaufmerksamen Leser:in), dass eine Kriegssituation (im Gegensatz zu einer Situation, in der die «Politik» noch funktioniert) nicht allzu viele Wahlmöglichkeiten erlaubt und keine schlauen neutralistischen Haltungen zulässt. Die Wahlmöglichkeiten waren und sind im Wesentlichen auf drei reduziert:

  • Die russische Invasion als befreiend zu begrüßen und auf verschiedene Weise mit ihr zu kollaborieren;
  • zu fliehen und die Verteidigung der Häuser, der Infrastruktur und des Lebens derjenigen, die nicht fliehen konnten, sowie der politischen Unabhängigkeit des Landes selbst allein der regulären Armee zu überlassen;
  • oder sich auf verschiedene Weise am ukrainischen antirussischen Widerstand zu beteiligen und zu versuchen, einen eigenen Beitrag zu leisten, bewaffnet oder unbewaffnet, und zwar zur Verteidigung des Landes.

Es ist offensichtlich, dass ein großer Teil der italienischen «radikalen Linken», wenn er sich an der Stelle des «jungen Ukrainers»/der «jungen Ukrainerin» befunden hätte, die erste Position eingenommen hätte, oder höchstens die zweite, anscheinend fast niemand die dritte.

Die Idee des «Defätismus auf beiden Seiten»

Die Position des so genannten «revolutionären Defätismus» ist ein bequemer Trick für diejenigen, die ihn Tausende von Kilometern von der Bombardierung entfernt propagieren. Diejenigen, die versuchen, ihn im ukrainischen Kontext zu praktizieren, wie die Робітничий Фронт України – РФУ (die Arbeiterfront der Ukraine, auf die sich die Anhänger:innen des Dokuments beziehen, das aus der Konferenz «Nein zum imperialistischen Krieg!» vom 16. Oktober hervorgegangen ist) können dies nur in rein propagandistischen Aussagen wie «Es gibt einen Schlüssel zur Beendigung dieses Kreislaufs von Krieg und Ausbeutung: den Sozialismus, in dem jeder Mensch ein Bruder des anderen Menschen ist» (Zitat aus einem Dokument der Front) konkretisieren.

Denjenigen, die ihr Zuhause verlieren, die nicht wissen, was sie essen sollen, die nichts haben, was sie wärmt, die täglich darum bangen, nicht von Bomben oder Scharfschützen zerfetzt zu werden, kann der «Sozialismus» nicht als Lösung vorgeschlagen werden –  noch dazu in einem Teil der Welt, in einer Situation, in der der Begriff «Sozialismus» für so viele einen zweideutigen, wenn nicht gar beunruhigenden Klang hat. Dies gilt umso mehr für eine Organisation wie die Front, die mit ihren Verweisen auf Stalin und die Sowjetzeit nicht einmal klarstellt, auf welchen Sozialismus sie sich bezieht –  oder dies vielleicht nur allzu deutlich macht. Was die Russische Föderation betrifft, so behauptet die Front:

«In Russland, wo der Kapitalismus recht demokratisch ist, wird die sozialistische Ideologie nicht durch Verbote eingeschränkt, während es in der Ukraine einen echten Faschismus/Nazismus gibt, gegen den die Russische Föderation jetzt offen kämpft. Es handelt sich also um einen gerechten antifaschistischen Kampf

Die Interpretation des Krieges durch die Arbeiterfront lässt sich wie folgt zusammenfassen:

«Der Krieg ist die Fortsetzung des imperialistischen Kampfes um die reichen Ressourcen des Landes, seine Arbeitskraft und die Reste der sowjetischen Industrie. Die Invasion ist ein Versuch des russischen Monopolkapitalismus, die Position der Stärke wiederzuerlangen, die er 2014 mit der Neuausrichtung der ukrainischen Politik nach Westen verloren hat. Wir analysieren das Interesse der USA an einer Schwächung Russlands und betrachten den Krieg in der Ukraine generell als Vorspiel zu einem neuen Weltkrieg

Auf der Grundlage dieser Überlegungen läuft man also Gefahr, alles als Verteidigung des Status quo zu rechtfertigen, die US-Invasion in Vietnam, den Versuch einer US-Invasion in Kuba usw. Mit diesem Ansatz wird jede geopolitische Entscheidung eines Landes von einer Manifestation des freien Willens dieser Regierung und dieses Volkes, sich politisch anders zu orientieren, in eine einfache Frucht zwischenimperialistischer Gegensätze verwandelt. Die Völker verschwinden und nur die großen Drahtzieher bleiben übrig.

Sogar bei der Identifizierung der «Drahtzieher» scheint die Front eine gewisse Vorliebe zu haben, so dass die jüngste «gewaltsame Übernahme der reaktionären nationalistischen Ideologie und der Russophobie [in der Ukraine] nach dem 24. Februar» nicht als Folge der Aggression Putins, ihres Crescendos der Zerstörung und der Massaker, sondern als Auswirkung der «nationalistischen Gehirnwäsche durch die Regierung Selenskyi» verstanden wird.

Schließlich möchte ich zum Thema «Defätismus» eine Anekdote erzählen: Im Mai [2022] rühmten unsere «Defätist:innen» die umfassende Mobilisierung in einer kleinen ukrainischen Stadt (Chust), wo etwa hundert Frauen das örtliche Rekrutierungszentrum belagert hatten, um zu fordern, dass ihre Männer nicht eingezogen werden. Ich schaute auf der Karte nach, um zu sehen, wo diese Stadt liegt. Sie liegt an der Grenze zu Rumänien, 800 Kilometer von Kiew entfernt, wo der Konflikt gerade stattfand. Sobald jedoch im Laufe des Krieges ein paar Bomben in dieser Gegend fielen, hörte man nie wieder etwas von den «defätistischen» Mobilisierungen gegen die Wehrpflicht.

Eine andere Sache ist natürlich die gerechtfertigte Mobilisierung gegen die von den russischen Behörden angeordnete Wehrpflicht (die im Übrigen nach klassistischen und rassistischen Kriterien in den ärmeren Schichten und ethnischen Minderheiten in Russland durchgeführt wird), und alle Deserteure und alle Kampfaktionen gegen Rekrutierungszentren müssen eindeutig unterstützt werden.

Abgesehen von der unbestreitbaren Verantwortung der NATO ist es in jedem Fall politisch unklug, das «Leid» der Russ:innen und der Ukrainer:innen in einer falschen Gleichsetzung auf eine Stufe zu stellen. Ein paar Hunderttausend russische Soldaten sind direkt in den Konflikt verwickelt (zumeist natürlich Wehrpflichtige, abgesehen von den Söldnern, aber das entspricht immer noch 0,1 Prozent der Bevölkerung der gesamten Föderation), während auf ukrainischer Seite nicht nur die Armee, sondern alle 43 Millionen Bürger:innen involviert und materiell und existenziell und in gewisser Weise auch emotional schwer betroffen sind. Das betrifft auch die 6 oder 7 Millionen Ukrainer:innen, die bereits vor dem 24. Februar ausgewandert waren.

Natürlich müssen wir auch auf der Seite der russischen Jugend stehen, die in einen Krieg gezogen wird, der nicht im Geringsten ihr eigener ist, und auf der Seite ihrer Familien, aber wir können nicht verschweigen, dass es eine gigantische ethische Kluft gibt zwischen denen, die wie die russische Arbeiter:innenklasse in einen beschwerlicheren Alltag und eine Zeit größerer wirtschaftlicher Not gezwungen werden (wofür wiederum ausschließlich die Putin-Führung verantwortlich ist), und denen, die wie die ukrainische Arbeiter:innenklasse die Realität erleben, dass täglich Raketen ganze Städte dem Erdboden gleichmachen.

Internationalist:in sein

Ich wiederhole: Internationalismus bedeutet in erster Linie, sich die Frage zu stellen, was ich (mit meinem ideellen und politischen Gepäck) tun würde, wenn ich dort wäre, sonst ist Internationalismus kein Internationalismus. Es gab eine Zeit, in der Internationalismus sogar dazu führte, sich den «internationalen Brigaden» anzuschließen. Aber es darf zumindest nicht dazu kommen, dass man seine Position zur Ukraine der politischen Zweckmäßigkeit und der nationalen «Positionierung» unterordnet. Das ist kein Internationalismus und kann es auch nicht sein.

Was ich versucht habe, über die/den «jungen Ukrainer:in» zu sagen, kann man auch über die/den «junge:n Russen/Russin» sagen. Internationalismus bedeutet auch die Frage, welche Position ein:e russische:r Internationalist:in einnehmen sollte. Die/der russische Internationalist:in erlebt nicht die gleiche Dringlichkeit wie die/der ukrainische, aber ihr/sein internationalistisches Bewusstsein sollte sie/ihn dazu bringen, eine konvergente Position einzunehmen. Und das ist es, was Tausende junger russischer und insbesondere russischer Oppositioneller tun. Sollen russische Demokrat:innen (nach dem Vorbild eines großen Teils der italienischen Linken) sagen, dass die NATO für die Situation verantwortlich ist? Dass die Ukraine von Nazis verseucht ist? Dass sie undemokratisch ist, weil sie die Opposition verbietet? Dann wäre sie nicht mehr in der Opposition zu Putin, denn sie würde seine grundlegenden Analysen teilen.

Im Gegenteil, die russischen Oppositionellen übernehmen im Wesentlichen die Linie der amerikanischen Anti-Vietnamkriegsbewegung zwischen 1966 und 1975: «Russland raus aus der Ukraine», «Holt unsere Jungs nach Hause». Und die bewusstesten Sektoren rufen, wie im Falle der USA vor über 50 Jahren, die grundlegende Parole aus: «Für den Sieg der Ukraine».

Vier Gewichtungen und vier Maßstäbe

Ich weiß schon, dass unsere «radikalen Linken» entgegnen werden: «Aber wir sind doch hier, wir müssen gegen die NATO sein». Richtig, aber ich würde argumentieren, dass wir auch gegen die NATO sein müssen, während für unsere hiesige Linke die Opposition und die Anprangerung der Verantwortlichkeiten der NATO und der EU jede Spur von Solidarität mit dem ukrainischen Volk, mit seinem Widerstand und mit seiner klassistischen und internationalistischen Linken ersetzt und ausgelöscht hat.

Sie prangert zu Recht die «Doppelmoral» der pro-atlantischen Medien an, die die Aggressionen der russischen Armee verurteilen, aber die Aggressionen der Amerikaner:innen in ihren zahlreichen imperialistischen Kriegen, die der Türk:innen gegen die Kurd:innen, die der Israelis gegen die Palästinenser:innen usw., verschweigen oder sogar rechtfertigen. Aber dieser «Doppelmoral» steht eine ebenso weit hergeholte Doppelmoral gegenüber, die das Leiden des ukrainischen Volkes verharmlost.

Ein Teil dieser Linken hat zur Rechtfertigung ihrer campistischen und manchmal ausdrücklich «putinistischen» Position auch das Konzept der Selbstbestimmung selbst in Frage gestellt und hält es für ein Überbleibsel aus dem 20. Jahrhundert. In diesem Zusammenhang verweise ich auf einen anderen Artikel, den ich im Juni [2022] geschrieben habe (mit einigen geringfügigen Anpassungen, die ich jetzt ergänze und hervorhebe):

Eine Überlegung zu Nationalismus und Selbstbestimmung, da so viele (auf der Linken), um nicht für die Ukraine Partei zu ergreifen, den Wert der Selbstbestimmung für einen überholten Wert halten (aufgrund der Globalisierung?), ein Überbleibsel des Risorgimento des 19. Jahrhunderts, auf jeden Fall für einen bürgerlichen Wert (wie die Demokratie?), der daher nicht mehr anzustreben sei. Außerdem wird damit, mehr oder weniger unbewusst, der großrussische Nationalismus unterstützt, der einst der der Zar:innen war und heute ein Werkzeug des faschistischen Bonapartismus Putins ist.

Es wird behauptet, dass die Ukrainer:innen kein Volk sind. Die jahrhundertelange Verbindung mit Russland habe sie auf jeden Fall «russifiziert». Diese Behauptung ist völlig abwegig und, wieder einmal, mehr oder weniger unabsichtlich irreführend. Ethnische Unterscheidungen haben wenig mit Selbstbestimmung zu tun. Oft wird die kulturelle Identität eines Volkes in erster Linie von Intellektuellen und wenig von der Bevölkerung begriffen. Die Geschichte Italiens ist in dieser Hinsicht beispielhaft. Schon im Mittelalter sprach man von «Italien» (siehe Dante Alighieri). Und wie Massimo D’Azeglio gesagt zu haben scheint, wurde zuerst Italien gemacht und erst dann «die Italiener:innen».

Diejenigen, die einen entscheidenden Beitrag zum Entstehen eines «Nationalgefühls» und zur Entdeckung seiner «Identität» leisten, sind sehr oft diejenigen, die es leugnen wollen. Der anti-ukrainische Druck, den Russland spätestens seit dem Euromaidan auf sein Nachbarland ausübt, und der derzeitige Angriffskrieg waren die stärksten Multiplikatoren des Nationalgefühls und damit auch der antirussischen Prägung, die es angenommen hat.

Auf der anderen Seite war dies auch bei den Palästinenser:innen der Fall. Für sie war und blieb das Gefühl, eine Nation zu sein, bis zur fortschreitenden und dann überwältigenden zionistischen Einwanderung mehr oder weniger in den 1920er Jahren ausschließlich auf einige wenige Intellektuelle beschränkt. Es war der Zionismus und seine Leugnung der Existenz einer «palästinensischen Nation», der unter der arabischen oder zumindest arabischsprachigen Bevölkerung der Region ein immer stärkeres Nationalgefühl entstehen und wachsen ließ, das palästinensische Muslim:innen, Katholik:innen, Atheist:innen, Agnostiker:innnen, Reaktionär:innen und Fundamentaliste:innen, Marxist:innen, Libertäre und Progressive zusammenführte. Die Leugnung der Existenz einer palästinensischen Nation durch die «Theoretiker:innen» des Zionismus, gepaart mit der verbrecherischen und heute fast säkularen israelischen Besatzung, tat ihr Übriges, und heute würde niemand, zumindest nicht auf der Linken, die Existenz und Würde der palästinensischen Nation leugnen wollen.

Abschließend möchte ich als weiteren Ausdruck der moralischen Krise des Internationalismus hinzufügen, dass niemand in der italienischen «radikalen Linken» auch nur daran gedacht hat, Initiativen zu organisieren, die den ukrainischen oder russischen Protagonisten eine Stimme verliehen. Die einzigen Ausnahmen waren die äußerst wichtigen Anlässe, bei denen das «Komitee für ein Nein zum Krieg in der Ukraine» die ukrainische Forscherin Daria Saburova, den russischen Soziologen Alexander Bikbov und den italienisch-russischen Journalisten Jurii Colombo anhörte.

Dasselbe Komitee, das am vergangenen Freitag, dem 7. Oktober[2022] die einzige linke Demonstration in der Nähe der russischen Botschaft in Rom organisiert und durchgeführt hat.

Referenzen

Der Artikel erschien ursprünglich auf dem Blog Refrattario e Controcorrente sowie auf anticapitalista.org. Übersetzung aus dem Italienischen: Harald Etzbach

Bildquelle: Nicht nur in Russland blättert der Lack, auch anderswo zeigen sich die Zeichen der Zeit. Foto aus Russland von Tengyart auf Unsplash.

[1] Der Artikel erschein zuerst im Dezember 2022 [Anm. d. Red.].